Vor 75 Jahren: Nachkriegsjustiz schützt Nazimörder
Am 08.05.2025 ist der 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus in Deutschland. Es ist jetzt schon absehbar, dass es mit den rechtsradikalen Kräften rund um die AfD die Auseinandersetzung über die Erinnerung geben wird. Bereits am 21.10.2024 konnte in Aachen der Befreiung vom Faschismus gedacht werden. Aachen war die erste deutsche Großstadt die befreit wurde. Der von den Amerikanern eingesetzte Oberbürgermeister von Aachen, der sicherlich nicht unumstrittene Franz Oppenhoff,wurde am 25.03.1945 von einem Stoßtrupp des Werwolf, einer SS Einheit erschossen. Dieses Verbrechen wurde von der Justiz im Jahre 1949 aufgearbeitet, das Urteil fiel am 22.10.1949, also fast genau fünf Jahre nach der Befreiung. Dieses Urteil ist ein Lehrstück für die Nachkriegsjustiz und ihre Verharmlosung und Rechtfertigung des Naziterrors. Davon soll im Folgenden die Rede sein. Man findet dieses Urteil, wie Tausende weitere Urteile der NachkriegsJustiz zu NS-Verbrechen in der Sammlung von C.F. Rüter, einem Strafrechtsprofessors aus Amsterdam. Mittlerweile liegt die Sammlung digitalisiert vor. Wer sich ein Bild davon machen will die Gerichte mit Nazis nach dem Krieg umgegangen sind, sollte einfach mal in dieser Sammlung stöbern. Das Urteil des LG Aachen (6 Ks 2/49) zum Mord in Aachen ist im V. Band als Nr. 173 abgedruckt.
Der Fall
Nachdem Franz Oppenhoff zum Bürgermeister von Aachen berufen wurde, verlangte Himmler persönlich, dass er zu erschießen sei. Für diesen Zweck wurde im Rheinland ein Werwolf Mordkommando zusammengestellt. (Motto des Werwolfes: „Der Werwolf wird nicht ruhen und nicht rasten, bis jeder deutsche Gau wieder vom Feind gesäubert ist. Jetzt rufen wir Werwölfe alle revolutionären Herzen auf: Den Feind vernichten, schlagen und wieder schlagen! Tod unseren Feinden, Sieg unserer Freiheit!“). Verantwortlich für die Zusammenstellung war G., ein General der Waffen SS.
Das insgesamt 6-köpfige Kommando, zu dem ein Hitlerjunge von 16 Jahren und – wegen ihrer Ortskenntnis von Aachen – auch eine 22-jährige fanatische BDM Führerin (Ilse Hirsch) gehörte, wurde mit einem Flugzeug hinter der Front in Belgien mit Fallschirm abgesetzt, und waren mit falschen Papieren ausgestattet. Sie erschossen auf dem Weg nach Aachen einen holländischen Grenzbeamten. In Aachen gingen Herbert Wenzel und Josef „Sepp“ Leitgeb zu der von Hirsch ermittelten Adresse und gaben vor, den Oberbürgermeister wegen neuer Ausweispapiere und Verpflegung sprechen zu wollen. Der Bürgermeister erklärte ihnen, er könne keine Papiere zur Verfügung stellen wohl aber etwas zu essen. Als er dann mit dem Essen aus dem Haus kam erschoss ihn Leitgeb aus unmittelbarer Nähe durch einen Kopfschuss. Wenzel stand direkt daneben.
Auf dem Rückweg auf die andere Seite der Front trat Leitgeb auf eine Mine war sofort tot, Wenzel wurde nie zur Rechenschaft gezogen, sondern soll sich nach Namibia abgesetzt haben. Vor Gericht standen die anderen Mitglieder des Trupps (außer dem Hitlerjungen), G, und eine weitere Person aus seinem Stab, der den unmittelbaren Kontakt zum Kommando hatte, sowie der Beschaffer der falschen Papiere. Den Vorsitz in der Verhandlung führte ein Richter, der seit 1937 Mitglied der NSDAP war und auch während des Krieges an Sondergerichten tätig war.
Die heutige Lösung des Falles
Nach heutiger Sichtweise wäre es ziemlich einfach. Mord (niedrige Beweggründe und Heimtücke) in Mittäterschaft, der Beschaffer der Papiere, der auch wusste, wofür sie benötigt würde wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.
Die Lösung des LG Aachen – der Täter
Entsprechend der Nachkriegsjustiz waren allerdings alle nur Gehilfen. Wer war der Täter?
Täter ist im vorliegenden Falle nach der Überzeugung des Schwurgerichts allein Himmler. Die Anklage geht davon aus, dass W. und Le. die Täter sind, und beschuldigt G. der Anstiftung, alle übrigen Angeklagten der Beihilfe. Diese rechtliche Bewertung des Tatanteils der Angeklagten berücksichtigt aber nicht die besonderen Umstände des Falles. Sie lässt den Umstand außer Acht, dass Himmler derjenige war, der den Befehl zur Erschießung des Oberbürgermeisters von Aachen gab. Die Tat ging allein auf Himmlers Willensentschluss zurück. Er wollte die Tötung des Oberbürgermeisters von Aachen als seine Tat. Das wird deutlich durch seine wiederholten persönlichen Mahnungen in der Angelegenheit. Wollte man Himmler als Anstifter ansehen, würde man seinem – auch nach aussen hin kundgegebenen – Willen nicht gerecht, der dahin ging, allein über Leben und Tod des Oberbürgermeisters von Aachen zu entscheiden. Himmler ist also der Täter, obwohl er selbst die eigentliche Ausführungshandlung nicht einmal teilweise vorgenommen hat.
Demgegenüber sind W. und Le. sowie alle Angeklagten als Gehilfen Himmlers anzusehen, auch wenn man berücksichtigt, dass Le. den tödlichen Schuss abgegeben, also die Tötung allein vorgenommen hat. Wenn auch damit ein Umstand gegeben ist, der unter gewöhnlichen Lebensverhältnissen regelmässig für die Täterschaft spricht, so ist im vorliegenden Falle zu berücksichtigen, dass W. und Le. sowie alle Angeklagten zu Himmler in einem militärischen Unterordnungsverhältnis standen. Sie hatten nicht darüber zu befinden, ob die Tat überhaupt ausgeführt wurde oder nicht. Das mussten sie ausschliesslich Himmler überlassen. Sie ordneten – auch nach aussen erkennbar – ihren Willen demjenigen Himmlers so vollständig unter, dass trotz der gänzlichen Verwirklichung des äusseren strafbaren Tatbestandes durch Le. die Beurteilung seiner Tat wie die des Tatanteils aller Angeklagten als Beihilfe geboten ist.
Niedere Beweggründe und Heimtücke
Sodann erörtert die Entscheidung die Frage, ob Himmler aus niedrigen Beweggründen gehandelt habe. Es kommt dabei zum Ergebnis, dass dies durchaus sein könnte, letztlich aber nicht entschieden werden müsse, da die Mitglieder des Kommandos und ihre Vorgesetzte selbst nicht aus niederen Beweggründen gehandelt hätten:
Den Angeklagten kann nicht nachgewiesen werden, dass sie die oben erörterten Beweggründe Himmlers gekannt oder auch nur damit gerechnet haben (vgl. OGH in NJW 1949 S.596).
Die Angeklagten H., He., Hi., G. und R. lassen sich dahin ein, sie seien davon überzeugt gewesen, dass ein rechtskräftiges Todesurteil eines Gerichtes gegen den Oberbürgermeister von Aachen wegen Landesverrats ergangen sei. Diese Einlassung ist nicht widerlegt.
Das Schwurgericht hält es für durchaus möglich, dass damals ein Todesurteil gegen den Oberbürgermeister von Aachen wegen Landesverrats von einem Gericht gefällt worden ist. Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass O. damals auch in Abwesenheit zum Tode verurteilt werden konnte. Bei einem Verfahren durch den Volksgerichtshof ergibt sich das aus den Vorschriften der §§276 ff. StPO, wie sie durch das Gesetz vom 28.Juni 1935 (RGBl. I S.844) eingeführt wurden. Wenn auch diese weitgespannten Grenzen, innerhalb deren nach dem nicht nachprüfbaren Ermessen der Anklagebehörde Anklagen grösster Bedeutung ohne Anhörung des Angeklagten verhandelt werden durften, rechtsstaatlichen Forderungen widersprechen, so rechtfertigt diese nationalsozialistische Gestaltung des Verfahrens für sich allein nicht den Schluss, dass die so ergangenen Urteile jeder Rechtswirksamkeit entbehrten.
Die Heimtücke der Tötung wird dann gleich wie folgt erledigt:
Was die Art der Ausführung der Tat anlangt, so wurde die Erschiessung O.s dem äusseren Tatbild nach „heimtückisch“ im Sinne des §211 Abs.II StGB vorgenommen. W. und Le. hatten den Oberbürgermeister durch falsche Angaben getäuscht und Le. hat das ahnungs- und wehrlose Opfer überraschend getötet. „Zum Bilde der heimtückischen Tötung gehört auch, dass der Täter von einem verwerflichen Beweggrund geleitet ist. Die heimtückisch begangene Tötung muss auch dem Beweggrund des Täters nach besonders verwerflich sein“ (vgl. OGHBZ in SJZ 1949/347 sowie besonders eingehend und zutreffend Eb. Schmidt in DRZ 1949, S.245 ff.). Das bedeutet, übertragen auf W. und Le. als Gehilfen Himmlers, dass sie entweder selbst aus verwerflichen Beweggründen gehandelt oder wenigstens die Beweggründe Himmlers gekannt haben müssen, wenn ihre Tat als heimtückisch beurteilt werden soll. Beide subjektiven Voraussetzungen sind bei W. und Le., wie bereits erörtert, nicht feststellbar. Die Ausführung der Tat durch W. und Le. kann daher schon aus diesem Grunde nicht als heimtückisch bezeichnet werden.
Die richtige Vollstreckung des Todesurteils
Mit anderen Worten: hätten die Angeklagten ein real existierendes Todesurteil ordnungsgemäß vollstreckt, hätte man sie freisprechen müssen. Es klingt heute nur makaber, wenn man liest, worauf es bei der Vollstreckung der Todesstrafe angekommen wäre:
Sie sahen jedoch, dass das Schreiben Himmlers keine Angaben über das erkennende Gericht und seine Zusammensetzung, über den Zeitpunkt der Verurteilung und den Namen des nach Ansicht der Angeklagten Verurteilten enthielt. Entsprechende Angaben waren ihnen auch sonst nicht bekannt geworden. Sie hielten das Schreiben deshalb nicht für eine Abschrift der Urteilsformel. Obwohl G. und R. wussten, dass eine solche Urteilsformel zu den formellen Voraussetzungen einer rechtmässigen Vollstreckung gehörte, ……
Dabei wussten sowohl G. wie R., dass zu einer rechtmässigen Vollstreckung eines Todesurteils gewisse Formerfordernisse gehörten. Sie waren sich insbesondere darüber im klaren, dass einem in Abwesenheit Verurteilten bei Ergreifung das Urteil nachträglich bekannt zu geben ist. Beide Angeklagten wussten auch, dass die Werwolfmänner für andere Aufgaben als die Vollstreckung von Todesurteilen vorgesehen und geschult waren, und dass die Vollstreckung unter aussergewöhnlichen Bedingungen, nämlich im vom Feind besetzten Gebiet vorzunehmen war.
….
Die Angeklagten H., He. und Hi. waren der Überzeugung, dass ein Todesurteil gegen den Oberbürgermeister von Aachen vorlag. Die Angeklagte Hi. hatte darüberhinaus keine Vorstellung davon, dass die Vollstreckung eines Todesurteils an gewisse Formen gebunden ist und noch weniger darüber, welche Mindestanforderungen an die Form einer rechtmässigen Vollstreckung zu stellen sind. Sie war der Überzeugung, dass die Vollstreckung in jedem Falle rechtmässig war, weil sie von „höchster Reichsstelle“ angeordnet worden war. H. und He. dagegen wussten, wenn auch nicht mit allen Einzelheiten, so doch, dass die rechtmässige Vollstreckung eines Todesurteils nicht völlig formlos statthaft ist. Sie wussten zumindest, dass der in Abwesenheit verurteilte vor der Vollstreckung erfahren muss, weshalb er zum Tode verurteilt worden ist, und dass ihm bekanntgegeben werden muss, dass es sich überhaupt um die Vollstreckung eines Todesurteils handelt.
Beihilfe zum Totschlag und dann auch nur in einem minder schweren Fall
Nur G, der General der Waffen SS, wurde wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilt (die Höhe ist mir nicht bekannt). Bei R. H. und He. wurde ein minder schwerer Fall angenommen:
Aus dem Gesagten ergibt sich aber deutlich, dass die Schuld der Angeklagten R., H. und He. weit geringer wiegt, als die des Angeklagten G. Er hatte in erster Linie die Pflicht und auch die Möglichkeit, das befohlene Unrecht abzuwenden. Die anderen genannten Angeklagten handelten unter den Augen ihrer Vorgesetzten, verfügten nicht über die organisatorischen Möglichkeiten G.s und spürten den Zwang zum Gehorchen stärker als G. Die Verweigerung des Gehorsams hätte bei ihnen, ganz besonders aber bei H. und He., ein erhebliches Mass von Charakterstärke und Willenskraft erfordert.
Dies kann nur richtig gewürdigt werden, wenn man berücksichtigt, in welchem Masse gerade den Angehörigen der SS gegenüber die Gehorsamspflicht überspannt wurde. Unter diesen Gesichtspunkten ist es gerechtfertigt, die Beihilfe der Angeklagten R., H. und He. in einem milderen Lichte zu sehen, so dass der Strafrahmen des §212, 49 StGB unangemessen hart erschienen wäre. Die Anwendung der §§213, 49 StGB war deshalb geboten.
S,, der die falschen Papiere gefertigt hatte, wurde freigesprochen, weil er nicht wusste, wofür die von ihm gefertigten falschen Papiere gedacht waren.
Gedanken des Jugendstrafrechts
Freigesprochen wurde auch die einzige Frau im Kommando. Wir wissen heute, dass die Rechten regelmäßig die Verschärfung des Jugendstrafrechts fordern. Ganz anders für diese zur Tatzeit 24-jährige Angeklagte:
Erkenntnisvermögen und Wertvorstellungen der handwerklich und künstlerisch veranlagten Angeklagten wurden während der Jahre, die für die Bildung sozialer, insbesondere staatsbürgerlicher Anschauungen entscheidend sind, d.h. also nach dem 14./15. Lebensjahre, durch die Lehren des Nationalsozialismus massgeblich beeinflusst. Die immer wiederholte These, dass Volk und Führung eins seien, beherrschte die Anschauungen der Angeklagten, zumal sie nach Charakter und Erziehung für die zur Begründung jener These verwandten Argumente aus der Gedankenwelt der politischen Romantik besonders empfänglich war. …. Hiernach wäre ihr der Gedanke, dass die obersten Führer der Partei mit Hitler an der Spitze, zur Erhaltung und Stärkung ihrer Macht Verbrechen verübten, völlig absurd erschienen. Dieser Mangel an Erkenntnisvermögen war, wie sich schon aus dem Gesagten ergibt, nicht etwa die Folge einer Gleichgültigkeit oder Stumpfheit gegenüber den sozialen Erscheinungen und Geboten, sondern das Ergebnis ihrer Unreife und fehlgeleiteten staatsbürgerlichen Erziehung. Weder das eine noch das andere kann ihr zum Vorwurf gereichen. Unter den aussergewöhnlichen Umständen, wie sie sich aus der „totalen“, völlig einseitigen Jugenderziehung des NS-Staates ergab, ist es gerechtfertigt, den in §3 des Reichsjugendgerichtsgesetzes ausgesprochenen Gedanken auch für die Beurteilung der Schuldfähigkeit der Angeklagten Hi. heranzuziehen, obwohl sie zur Zeit der Tat schon 24 Jahre alt war. .
„Auch diese Blindheit kann ihr nicht zum Vorwurf gereichen“
Als Höhepunkt dann die Ableitung des Freispruchs aus dem fanatischen Glauben an den NS-Staat:
Sie befand sich in dem Glauben, dass es sich bei dem Unternehmen gegen O. um eine rechtmässige Vollstreckung eines Todesurteils handelte. Dass sie, die selbst bei der Herstellung von Panzergräben mitgewirkt hatte, in jedem, der sich zum Oberbürgermeister einer von den Feinden besetzten Stadt ernennen liess, einen Verräter sah, der dem deutschen Widerstand „in den Rücken fiel“, bedarf nach dem Gesagten keiner weiteren Begründung. Aus ihrer Überzeugung von der materiellen Rechtmässigkeit eines Todesurteils erwuchs bei ihr die Gewissheit, die Tötung O.s sei als Vollzug des Urteils unter den gegebenen Umständen notwendig und rechtmässig. …. Ihr Glaube an die Lauterkeit der Persönlichkeiten, die dieses Unternehmen veranlassten und führten, schloss jeden Zweifel in die Art und Weise seiner Durchführung aus, eine gerade bei Frauen verständliche Betrachtungsweise. Auch diese Blindheit kann ihr nicht zum Vorwurf gereichen. …
Einen Freispruch wegen Rechtsblindheit erzielte auch der Richter am Volksgerichtshof Rehse, dem auch vom BGH zu Gute gehalten wurde, dass er die Regeln der Nazijustiz für Recht hielt.
Abschließend die Strafhöhe
R., H. und He wurden zu 12 bzw. 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. In zwei Folgeverfahren wurden die Haftstrafen von demselben Gericht weiter abgemildert und schließlich nach dem Straffreiheitsgesetz von 1954 „wegen Befehlsnotstands“ ganz erlassen.
Es wird wichtig werden, im nächsten Jahr das Gedenken an die 80-jährige Befreiung vom Faschismus in der Auseinandersetzung mit der neuen rechten Bewegung zu nutzen und sich gleichzeitig klar zu werden, wozu auch Jurist*innen fähig sind.
Eberhard Reinecke