Rückblick auf das Urteil im Prozess um den Brandanschlag von Solingen.
In unserer Presseerklärung zum Urteil im NSU Verfahren, haben wir dieses „ahistorisch“ genannt. Das Urteil ist vollständig von dem Gedanken durchzogen, wie es gegen eine Revision abgesichert werden kann, eine Annäherung an die historische Wahrheit außerhalb des unmittelbaren Tatgeschehens ist vom Gericht nicht einmal beabsichtigt. Wer jetzt denkt, das müsse so sein, weil es hier „nur“ um einen Strafprozess ginge, der täuscht sich.
Keinem Gericht ist es verboten, die konkreten Taten in einen historischen Kontext einzuordnen. Dass so etwas auch möglich ist, ohne Angst vor einer Revision haben zu müssen, zeigt z.B. das Urteil im Verfahren um den Brandanschlag in Solingen aus dem Jahre 1995. Ich habe dort nachgelesen und finde z.B. darin folgende Ausführungen:
Kontakt zu weiteren – vielfach organisierten – Vertretern der rechten Szene Solingens hatte der Angeklagte dadurch bekommen, daß er von September 1992 an bis in das Frühjahr 1993 hinein regelmäßig in den in Solingen-Gräfrath gelegenen Räumen des „1. Hak-Pao Sportclub Solingen e.V.“ verkehrte. Der Sportclub war von dem Zeugen B.Sch. im Jahre 1987 gegründet worden und legte den Schwerpunkt seines sportlichen Betriebes auf die Ausbildung in asiatischen Kampfsportarten, bot aber auch andere Sportarten wie z.B. Boxen, Gymnastik, Langlauf oder Wandern an.
Gleichsam als „Verein im Verein“ war von dem Zeugen Sch. zusätzlich der „Deutsche Hochleistungskampfkunstverband“ („DHKKV”) gegründet worden, der sich an einen engeren, ….. Kreis von Personen wandte, die nach Kriterien wie Familienstand, Berufsausbildung, körperliche Belastbarkeit, Nationalität, politischer Einstellung, Kontakte „zu anderen politischen Organisationen und Parteien“ und besondere Kenntnisse und Fähigkeiten (militärische Ausbildung, Funk- bzw. Schießausbildung u.a.m.) eingestuft wurden. …. Im Umfeld von „Hak-Pao“ und „DHKKV“ existierte die „Deutsche Kampfsportinitiative“ („DEI“), eine lose Gruppierung, die im Jahre 1992 von dem tief in der rechten Szene Solingens verwurzelten Zeugen Schl. ins Leben gerufen worden war; sie hatte den Zweck, Leute aus dem – wie Schl. formuliert hat – „patriotischen Bereich“ bzw. „national eingestellte Kameraden“ dem Kampfsport näher zu bringen und sie dem „DHKKV“ zuzuführen. Aus diesem Grunde kam es etwa ab Sommer/ Herbst 1992 in den Räumen des Sportclubs „Hak-Pao“ mehrfach zu Treffen und „politischen Stammtischen“ der durch Annoncen in rechtsgerichteten Publikationen geworbenen Interessenten, und zwar jeweils parallel zu dem ebenfalls freitagsabends abgehaltenen „Special-Forces-Combat-Karate“-Training.
Daran nahmen – wie der Angeklagte X. sich eingelassen hat – ohnehin „fast nur alte Nazis“ teil, die sich – zum Teil in Tarnkleidung und mit Waffen (Knüppeln, Messer u.a.m.) versehen – im Kampf Mann gegen Mann übten bzw. – nach den Worten des Mitangeklagten Y – „einen auf Soldaten machten.“ Bei diesen Gelegenheiten wurde mit starken Worten politisiert. Man redete über die NS-Zeit und „den Krieg“, polemisierte u.a. gegen die Ausländerpolitik der Bundesregierung und das „Scheinasylantentum“ und betrieb – zumindest gelegentlich – Werbung für rechte Parteien und Organisationen wie z.B. die „Deutsche Volksunion“, die „Republikaner“ und die „wiking-Jugend“, indem man entsprechende Zeitschriften, Flugblätter und andere Werbeträger auslegte bzw. verteilte.
Der Zeuge B. S. unterhielt seit März 1992 Kontakte zum Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen und lieferte zunächst als Gelegenheitsinformant (GI) und sodann ab Januar 1993 als Vertrauensmann (VM) Informationen über verschiedene rechtsextremistische Gruppierungen. Gegenüber den oben geschilderten Aktivitäten nahm er – jedenfalls nach außen – eine ablehnende Haltung ein und unterband zumindest Auswüchse. Er fand sich jedoch bereit, die Räume des Sportclubs Gruppierungen des rechten Spektrums – so im März 1992 der „Nationalistischen Front“ („NF“) – für Schulungsveranstaltungen zur Verfügung zu stellen und gemeinsam mit ausgewählten „Hak-Pao“ – und/oder „DHKKV“-Mitgliedern Schutz- und Ordnungsdienste bei Veranstaltungen solcher Organisationen durchzuführen, so bei der „NF“, der „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ und den „Republikanern“. In diese Umgebung wurde der Angeklagte von einem seiner „rechten Freunde“, dem nur wenig älteren Zeugen F. eingeführt. …..
Natürlich ist die Annäherung an die historische Wahrheit keine Forderung der Strafprozessordnung, es gibt nicht den Revisionsgrund, dass das ganze Geschehen außerhalb des unmittelbaren Tatvorwurfes falsch dargestellt wird. Für eine Revision der Angeklagten Zschäpe ist nur die Richtigkeit der Schilderung des unmittelbaren Tatgeschehens von Bedeutung. Da auch von ihr nie in Abrede gestellt wurde, dass Mundlos und Böhnhardt die unmittelbaren Täter waren, ist der ganze Rest für eine Revision ohne Bedeutung. Was also das Gericht zur jeweiligen Vorgeschichte der einzelnen Taten ins Urteil schreibt, wird eine Revision nicht begründen können. Weiter ging der Ehrgeiz der Münchner Richter offenbar nicht.
Mangelnde Empathie gegenüber den Opfern
In unserer Presseerklärung heißt es:
„Mit extremer Kälte werden die Mordopfer in diesem Urteil nur so beschrieben, wie sie vom NSU gesehen wurden.“
§ 46 StGB erfordert im Rahmen der Strafzumessung eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Taten auf die Opfer wenn es dort zur Strafzumessung heißt:
Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. 2Dabei kommen namentlich in Betracht: …….
die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, …..
sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.
Auch hier ein Beispiel aus dem Urteil zum Brandanschlag in Solingen:
Der Angeklagte hat im Zusammenwirken mit den Mitangeklagten den Familien G., D., I. und S. außerordentliches Leid zugefügt. Fünf Familienmitglieder sind qualvoll zu Tode gekommen. Das Leben von 14 weiteren Personen war extrem gefährdet. zahlreiche Familienmitglieder – insbesondere B. – haben- teilweise schwere und schwerste Verletzungen erlitten; ihre Rettung hing am „seidenen Faden“. B., der während des Brandes große Todesangst gehabt hatte und dabei wie auch später starke Schmerzen erdulden mußte, wird sein Leben lang gekennzeichnet sein durch die Verletzungen, die er bei dem Brand erlitten hat. Sie waren, wie bereits ausgeführt worden ist, schwerster Art und hatten eine Vielzahl von Krankenhausaufenthalten und wiederholte Operationen zur Folge. Bis heute leidet er unter Schmerzen und einer Bewegungseinschränkung der Hände und Füße. Auch künftig wird er weitere Krankenhausaufenthalte und Operationen hinnehmen müssen. Seine Lebensqualität wird auf Dauer erheblich beeinträchtigt sein. Es werden sichtbare Brandnarben, insbesondere im Kopf- und Gesichtsbereich sowie eine Bewegungseinschränkung vor allem der Füße und Hände bleiben. Er wird kaum Sport treiben können; er ist nur eingeschränkt berufstauglich. D. und M. G., ihren Kindern und Schwiegerkindern ist durch die Tat schweres seelisches Leid zugefügt worden. Nahe Angehörige wurden ihnen genommen. Die Lebens- und Familiengemeinschaft wurde zerstört. Sie werden ihr Leben lang dieses folgenschwere Geschehen nicht vergessen. Zudem haben sie das Haus verloren, das für sie Lebensmittelpunkt und Ort der Vertrautheit und der Geborgenheit war.
Das Leid der Opfer kommt im Urteil des OLG nicht vor. Für das Gericht zählt offenbar allein die Frage, ob Ausführungen dazu revisionsrelevant sind oder nicht. Da das Gericht bei der Angeklagten Zschäpe ohnehin jeweils auf die Höchststrafe erkannt hat, würde die Berücksichtigung des Leids der Opfer keine höhere Strafe rechtfertigen, also kann man diesen Gesichtspunkt – so offenbar das Kalkül des Gerichtes – auch weglassen. Im Gegenteil: Wird etwas zum Leid der Opfer hineingeschrieben und wäre dies nicht richtig, könnte das eine (Strafmass)revision rechtfertigen. Also je weniger man über das unbedingt Notwendige hinaus schreibt, desto weniger Ansatzpunkte für eine Revision gibt es. Und noch ein Problem hat das OLG sich so vom Hals gehalten. Da nur die vom Täter „verschuldeten Auswirkungen“ der Tat zu seinen Lasten berücksichtigt werden dürfen, hätte das OLG diese Auswirkungen gegen die durch den institutionellen Rassismus hervorgerufenen Auswirkungen der Tat differenzieren müssen, es hätte sich also mit den Ermittlungungen auseinandersetzen müssen, die sich praktisch in allen Fällen gegen die Familien der Opfer richteten.
Hinzu kommt, dass Nebenkläger ohnehin keine Revision mit dem Ziel einlegen können, dass eine höhere Strafe verhängt wird. So begnügt sich dann das Gericht bei der Strafzumessung des Mitangeklagten Wohleben dann auch mit einem einzigen Satz zu den gegen ihn sprechenden Gesichtspunkten:
Zulasten des Angeklagten wurde berücksichtigt, dass die Waffe Ceska bei der Ermordung von neun Menschen eingesetzt wurde.
Da die mangelnde Berücksichtigung der Opfer im Ergebnis für die Täter günstig ist, kann dieser Fehler natürlich auch keine Revision der Angeklagten begründen.
Das Gericht hat versagt – die historische Aufarbeitung muss weiter erfolgen
In meiner Referendarzeit, Anfang der 1970er war ich Mitglied in einer Reformkommission zur Juristenausbildung in Hamburg. Über alle politischen Unterschiede hinweg war unbestritten, dass Juristen die gesellschaftliche Bedingtheit des Rechts ebenso zu berücksichtigen haben, wie umgekehrt die Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die Gesellschaft. Heute ist davon nicht mehr so viel übrig geblieben, in NRW immerhin noch in § 2 Juristenausbildungsgesetz
Die Prüfung soll zeigen, dass der Prüfling das Recht mit Verständnis erfassen und anwenden kann und über die hierzu erforderlichen Rechtskenntnisse in den Prüfungsfächern mit ihren europarechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Bezügen, ihren rechtswissenschaftlichen Methoden sowie philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen verfügt.
Und in § 39 für die Refenrendarausbildung:
Während des Vorbereitungsdienstes sollen die Referendarinnen und Referendare lernen, auf der Grundlage ihrer im Studium erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten eine praktische Tätigkeit in Rechtsprechung, Verwaltung und Rechtsberatung aufgeschlossen für die Lebenswirklichkeit im Geiste eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates und unter Berücksichtigung der fortschreitenden Integration innerhalb der Europäischen Union eigenverantwortlich wahrzunehmen
Das Gericht hat sich in dem Urteil blind gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen gezeigt, die zum NSU geführt haben, aber auch für die Auswirkungen, die sein Urteil hat. Am Ende unserer Presseerklärung fordern wir die Übergabe der Akten an das Bundesarchiv, um sie für weitere Forschungen zur Verfügung zu stellen. Bei Beginn des Prozesses waren wir der Auffassung, dass dieser Prozess einmal in seiner Bedeutung für die Geschichte der Bundesrepublik in einer Reihe mit dem Auschwitz Prozess, dem Prozess gegen die RAF stehen könne. Der NSU bleibt in der Tat (bisher) einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Urteil des OLG München wird bei der Aufarbeitung der Geschichte des NSU keine Hilfe, sondern nur ein Bremsklotz sein. Aber das Geschehen selbst war für die Geschichte der Bundesrepublik so wichtig, dass wir zum ersten mal darüber nachdenken müssen, so etwas wie eine Wahrheitskommission zu fordern, insbesondere falls die Bundesanwaltschaft die Verfolgung weiterer Unterstützer einstellt.
Eberhard Reinecke
P.S. Eigentlich hätte ich diesen Artikel (noch) gar nicht schreiben können. Offiziell habe ich bis heute (1.5.2020) das Urteil und die Protokollbände nicht erhalten. Meine Kollegin Basay hat immerhin schon am Dienstag (28.4.) das Urteil erhalten. Vielleicht geht hier alles alphabetisch und es dauert noch bis R. dran ist. Dank an die, die mir das Urteil in digitalisierte Form überlassen haben.