Ob Lina E die ihr vorgeworfenen Taten tatsächlich begangen hat, kann und soll nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrages sein. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Frage, welche Mittel im Kampf gegen Faschismus und Rechtsextremismus zulässig sind. Es herrscht hier schon eine beängstigende einheitliche Auffassung, dass so etwas natürlich gar nicht geht, das sei Faustrecht, das im Gegensatz zum staatlichen Gewaltmonopol stehe. Ohne letzteres würde die Gesellschaft im Chaos versinken. Da ist es dann schon sehr wohltuend, wenn z.B. einzelne Stimmen – wie Erik Peter der taz vom 2.6.2023 (Antifa weil Staatsversagen) – die Sache differenzierter sehen. Einfach ist die Frage nicht zu beantworten. Aber es geht um viel. Faschisten hetzen gegen Linke, Migranten und PoC, aus ihren Kreisen kommen immer wieder die Übergriffe bis hin zu Morden. Bekanntlich haben Faschisten ein sehr eindeutiges Verhältnis zur Justiz: Wenn es ihnen nutzt, nutzen die sie die Justiz, ansonsten bekämpfen sie sie und missachten diese. Das staatliche Gewaltmonopol wird von Faschisten und Nazis nur akzeptiert, wenn sie selbst die Macht haben.
Im Rückblick ist vieles einfach
Machen wir also ein Gedankenexperiment und stellen uns vor, dass im Jahre 1923 ein Terminator aus dem Jahre 1990 in die Vergangenheit zurückkehrt und einen Menschen namens Adolf Hitler erschießt. Ohne Zweifel wäre das ein Akt der Selbstjustiz aber niemand würde aus heutiger Sicht ernsthaft daran zweifeln, dass dies berechtigt gewesen wäre.
Wir können auch ein aktuelles Beispiel nehmen. Wollte irgendjemand ernsthaft bezweifeln, dass zehn Menschen noch leben würden und einer Vielzahl von Menschen sehr vielleicht erspart worden wäre, wenn rechtzeitig Böhnhard, Mundlos und Zschäpe verprügelt worden wären? Selten ist das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols beim Schutz vor rechtsradikalen und beim Schutz für Migranten bzw. PoC so deutlich geworden, wie in diesem Fall. Nach dem Untertauchen gab es Haftbefehle, die nicht vollstreckt wurden, trotz einer Vielzahl von V-Leuten rund um das Trio wurde es nicht gefasst.
Nicht nur beim NSU ist es völlig unbestreitbar, dass trotz staatlichen Gewaltmonopols die Übergriffe von Rechtsradikalen gegenüber politischen Gegnern und die Übergriffe auf Migranten und PoC nicht verhindert werden. Im Gegenteil: Nach neuesten statistischen Daten haben sich die Angriffe auf Häuser von Migranten im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber dem ersten Quartal 2022 nahezu verdoppelt. Und was ist mit den sogenannten national befreiten Zonen, in den tatsächlich oft die nächste Polizeistation 20-30 Minuten entfernt ist? Wo ist dort das staatliche Gewaltmonopol?
Die Justiz als Bollwerk?
Natürlich kommt als weitere Argumentation dann der Hinweis darauf, dass die unabhängige Justiz in diesem Lande durchaus in der Lage ist, auch gegen rechte Tendenzen vorzugehen. Mal abgesehen davon, dass die Justiz nur dort tätig werden kann, wo ihr Polizei und Staatsanwaltschaft Fälle liefert, greift dieser Einwand schon deswegen zu kurz, weil es gar nicht so sehr um die aktuelle Justiz bis hin zum Bundesverfassungsgericht geht, der man tatsächlich im Großen und Ganzen unterstellen kann, nicht für rechte Parolen empfänglich zu sein. Diskutieren muss man vielmehr diese Frage im Zusammenhang mit der Möglichkeit eines Kipppunktes zu rechtsradikalen Bestrebungen in diesem Land. Unter dem Titel: „Am autoritären Kipppunkt“ weisen Daniel Mullis, Vanessa E. Thompson Maximilian Pichl in der taz vom 16.6.2023 richtig auf den Ernst der Lage hin.
Es mag für unser jetziges Verständnis unvorstellbar sein, aber real lebt die Macht der Justiz gerade davon, dass die Exekutive (und bei Rügen gegenüber dem Gesetzgeber durch das Bundesverfassungsgericht auch die Legislative), sich den Sprüchen des Gerichtes unterwirft. Über eine reale Macht – etwa im Sinne einer eigenen Polizei oder gar eigenen Militärs – verfügt die Justiz nicht. Der schleichende Prozess der Entmachtung der Justiz ist in Ländern wie Polen, Ungarn und jetzt auch Israel zu beobachten, all diese Länder gehören zum freien Westen und teilen angeblich unserer Werte. Wenn eine durch eine legislative Mehrheit gestützte Exekutive Richtersprüche einfach nicht mehr anerkennt, hat auch die Justiz ein Problem.
Das Widerstandsrecht
Art. 20 Abs. 4 GG lautet:
Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Praktisch angewandt als Rechtfertigung wurde dieser Artikel von Gerichten noch nie. Ins Grundgesetz aufgenommen wurde er nicht etwa von den Müttern und den Vätern des Grundgesetzes, sondern erst im Rahmen der Notstandsgesetze. Ich kann mich noch an die heftigen Diskussionen erinnern, die 1968 gerade darum geführt wurden, dass die Notstandsgesetze den Einsatz der Bundeswehr im Inneren z.B. gegenüber größeren und insbesondere wilden Streiks erlauben könnte. Gerade wegen dieser Möglichkeit wurde der Widerstand gegen die Notstandsgesetze seinerzeit auch von den Gewerkschaften mitgetragen. Als Trostpflaster wurde dann das Widerstandsrecht in das Grundgesetz aufgenommen, wobei eher ein Szenario beim Kapp Putsch im Raum stand, der tatsächlich durch einen Generalstreik erledigt wurde oder auch eine Machtübernahme, wie sie Heinrich der XIII., Prinz Reuß geplant hat. Gegenüber der schleichenden Übernahme der Macht durch Rechtspopulistischen ist das Widerstandsrecht kaum in Stellung zu bringen, da diese gerade umgekehrt behaupten werden, dass der Staat bestens funktioniert, wenn vielleicht auch nicht so, wie sich das die Linken vorstellen.
Auch hier könnte man ein Gedankenexperiment machen und einmal unterstellen, es gäbe in der ungarischen Verfassung einen entsprechenden Artikel. Wäre dann aus Sicht der hiesigen Verteidiger des Gewaltmonopols der in Ungarn bereits herbeigeführte Zustand ausreichend, um das Widerstandsrecht ausüben, was ja im Extremfall hieße auch bewaffnet auszuüben? Oder sind unsere Verfechter des staatlichen Gewaltmonopols der Meinung, dass auch in Ungarn dieses immer noch zu respektieren sei. Selbst wenn die unabhängige Justiz und unabhängige Medien nahezu ausgeschaltet sind?
Resümee
Natürlich habe ich keine Patentlösung, eine eilfertige Distanzierung von gewalttätigen Aktionen gegenüber Faschisten ist allerdings sicherlich falsch und sicher ist auch, dass all diejenigen, die so sehr auf das staatliche Gewaltmonopol pochen, erst einmal den Nachweis führen müssen, dass der Staat willens und in der Lage ist, gegen Rechtsextreme vorzugehen und Migranten und PoC tatsächlich vor deren Übergriffen zu schützen.
Eberhard Reinecke