Ergreifende Worte von Abdulkerim Simsek
Wir dokumentieren im folgenden die ergreifenden Worte von Abdulkerim Simsek, Sohn des ersten Mordopfers des NSU, die dieser im Rahmen der Schlussvorträge der Nebenkläger am 10.1.2018 vorgetragen hat. Wir danken für die Erlaubnis, dies veröffentlichen zu dürfen.
Mein Name ist Abdulkerim Simsek.
Ich bin der Sohn von Enver Simsek. Ich war 13 Jahre alt als mein Vater umgebracht wurde. Ich kann mich sehr gut an den 09.September 2000 erinnern. Ich befand mich damals im Internat in Saarbrücken. Am 10.September 2000 um 6 Uhr morgens weckte mich mein Lehrer und sagte, dass ich mit dem Zug nach Nürnberg fahren müsse und dort von Verwandten abgeholt werde.
Ich hatte ein mulmiges Gefühl, rief zuhause an aber erreichte niemanden. Ich wurde am Bahnhof von meinem Onkel abgeholt und er sagte, dass mein Vater im Krankenhaus sei. Als ich vor dem Krankenhaus ankam, sah ich viele Verwandte und meine Mutter die geweint hat. Als ich auf sie zuging merkte ich, dass sie nicht ansprechbar war und meine Schwester war bei ihr.
Ich spürte, dass etwas Furchtbares passiert war. Ich fragte gleich nach meinem Vater. Niemand sagte mir etwas Näheres, nur dass er auf der Intensivstation lag. Ich durfte meinen Vater stundenlang nicht sehen. Als wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, endlich zu ihm durften, war das ein schrecklicher Anblick. Ich bemerkte als erstes, dass sein linkes Auge zerfetzt war. Je näher ich mich ihm näherte, bemerkte ich drei blutverschmierte Löcher in seinem Gesicht und weitere an seiner Brust. Automatisch hatte ich diese gezählt. Ich glaube, ich hatte damals 6 Löcher gezählt.
Ich werde das nie vergessen.
Mir war klar, dass mein Vater nicht mehr derselbe sein würde und trotz Hoffnung er wahrscheinlich sterben wird. Meine Mutter hat die Hand meines Vaters gehalten, fiel heulend auf die Knie und ist zusammengebrochen. Auf einmal fingen die an meinem Vater angeschlossene Maschinen an zu piepen. Die Krankenschwester eilte herbei und drängte uns raus. Das war das letzte Mal, wo ich meinen Vater lebend gesehen habe.
Wir warteten den ganzen Tag im Krankenhaus und meine Mutter war nicht ansprechbar. Dadurch, dass mein Vater noch lebte, hatten wir Angst, weil wir dachten, dass die Täter nochmal kommen würden, um die Tat zu Ende zu bringen. Ich wollte nicht weg. Ich wollte meinen Vater schützen.
Irgendwann kam der Arzt zu meiner Schwester und mir und sagte, dass die Überlebenschancen sehr gering seien. Mein Vater starb am nächsten Tag. Wir brachten den Leichnam meines Vaters in die Türkei, um ihn zu beerdigen. Als Sohn hatte ich die Pflicht meinen Vater zu Grabe zu tragen. Ich musste ihn mit anderen Verwandten ins Grab legen. Bei uns gibt es keinen Sarg, sondern nur ein weißes Leinentuch, wo der Verstorbene eingewickelt wird.
Beim Niederlegen meines Vaters bemerkte ich, dass sich das Leinentuch am Hinterkopf, wo die Schussverletzung war, rot verfärbte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht geweint. Als ich die Erde auf ihn schüttete, konnte ich nicht mehr. In dem Augenblick hatte ich verstanden, dass ich meinen Vater nie wieder sehen werde.
Zurück in Deutschland war nichts mehr so wie früher. Meine Mutter hat immer geweint und hatte, wie wir heute wissen, schwere Depressionen, sie konnte sich nicht um mich und meine Schwester kümmern. Mein Vater war ein sehr geselliger Mensch, der in seiner Freizeit viel mit uns unternommen hat. Mit seinem Tod hörte unser gesellschaftliches Leben auf. Die finanziellen Mittel waren nach dem Tod meines Vaters sehr eingeschränkt und ich versuchte meiner Mutter nicht mehr zur Last zu fallen. Ich habe nie meine Gefühle gezeigt und es fällt mir auch jetzt sehr schwer dies alles zu sagen während meine Mutter heute da ist.
Aber ich war ja damals selbst noch ein Kind. Bis zur Aufdeckung des NSU habe ich niemanden erzählt, dass mein Vater umgebracht wurde. Obwohl ich sicher war, dass mein Vater kein Krimineller war, habe ich versucht die Ermordung meines Vaters geheim zu halten. Es klingt absurd, aber ich war erleichtert, als ich hörte, dass mein Vater von Nazis umgebracht wurde und so seine Unschuld bewiesen wurde. Die Heimlichtuerei konnte endlich aufhören.
Ich bin heute selbst Vater einer zweijährigen Tochter und heute ist mir klar, dass er nicht nur mir und meiner Schwester, sondern auch meinem Kind weggenommen wurde. Ihr werde ich, wenn die Zeit kommt, erzählen müssen, dass ihr Opa nur aufgrund seiner Herkunft von Nazis umgebracht wurde. Es gab viele Augenblicke in meinem Leben in denen ich meinen Vater sehr vermisst und gebraucht habe.
Mein Vater wäre heute 56 Jahre alt. Wir könnten noch so vieles teilen und unternehmen. Dies alles wurde uns genommen. Auch ich hätte viele Fragen an die Angeklagten gehabt.
Warum mein Vater ?
Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe mit acht Schüssen zu töten.
Was hat mein Vater Ihnen getan?
Können Sie überhaupt verstehen, was es für uns heißt, dass er nur deswegen ermordet wurde, weil er ein Türke ist.
Können Sie verstehen, was es für uns heißt, im Bekennervideo den Vater blutend auf dem Boden zu sehen und zu wissen, dass er dort stundenlang hilflos lag?
Wenigstens einer der Angeklagten hat hier umfassende Angaben gemacht und sich aus meiner Sicht aufrichtig entschuldigt. Herr Schulze, wir nehmen ihre Entschuldigung an.
Ich möchte, dass alle anderen, die an der Ermordung meines Vaters Schuld sind, zur Verantwortung gezogen und in höchstem Maße bestraft werden.