„Eines aber können wir tun: Nicht aufhören zu fragen.“

Schlußvortrag von Yvonne Boulgaridis

Am 7.2. 2018 wurden die Plädoyers der NebenklägerInnen und ihrer AnwältInnen beendet. Am Ende stand die Plädoyers von Yvonne Boulgaridis und von RA Yavuz Narin als würdige Zusammenfassung vieler vorheriger Plädoyers. Wir freuen uns, dass beide uns erlauben, diese Plädoyers hier zu veröffentlichen. Die Pressereaktion auf die Plädoyers finden sie hier für ZEIT-Online, SPIEGEL-Online und Süddeutsche.

Ich bin Yvonne Boulgarides.

Theo Boulgarides, mein Ehemann und Vater meiner Töchter, Mandy und
Michalina wurde am 15.06.2005 auf brutale Art und Weise hingerichtet.

1.
Vor einigen Jahren hielt ich in München eine Rede, die ich mit einem
Zitat von Albert Einstein beendete:
„Man soll nie aufhören zu fragen“

All die Opfer haben nicht aufgehört zu fragen, jedoch ist uns die
angeblich „lückenlose Aufklärung“ so viele Antworten schuldig geblieben.

Bis heute möchte ich wissen, warum das Ansehen meiner Familie in der
Öffentlichkeit derart demontiert wurde.

Hat man uns in die Täterrolle gedrängt, um unsere unangenehmen Fragen
zum Verstummen zu bringen? Oder befanden sich die Behörden tatsächlich
auf einem, für mich nicht nachvollziehbarem, Irrweg?

Wie kam es, dass so viele an den Ermittlungen beteiligte Zeugen bei
ihren Vernehmungen von einem epidemieartigen Gedächtnisverlust befallen
wurden?

Wieso erhielten V-Männer und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden nicht
proaktiv eine umfassende Aussagegenehmigung?

Wieso wurden und werden diese Leute, die ganz offensichtlich bei der
Ausübung Ihrer Pflicht kläglich versagt haben, geschützt?

2.
Warum wurde dieser Schutz nicht den Opfern und ihren Familien zuteil?

Wie viele Opfer wären uns erspart geblieben, wenn die beauftragten
Staatsorgane ihre Arbeit ehrenhaft und pflichtbewusst erledigt hätten?

Warum wurden trotz laufender Ermittlungen immer wieder Tausende von
Aktenseiten geschreddert?

Warum wurden zahlreiche V-Personen und mutmaßliche NSU-Unterstützer bis
heute nicht angemessen vernommen?

Wo sind all die, die durch ihr fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln
diese Verbrechen ermöglicht haben?
Warum haben sie keine Konsequenzen zu befürchten? Warum werden sie sogar
[wie Lothar Lingen der vorsätzlich Akten vernichtet hat], aktiv vor
Strafverfolgung geschützt?

Es wäre die Aufgabe der entsprechenden Staatsorgane gewesen, der
Wahrheitsfindung zu dienen. Leider muss ich an dieser Stelle von einem
kompletten Organversagen sprechen.

All die zum Teil absurden Auf- und Erklärungsversuche haben uns mit noch
mehr Fragen, Misstrauen und Ungewissheit zurückgelassen.

3.
Ich werde oft gefragt, wie ich diesem Prozess gegenüberstehe. Er ähnelt
für mich einem oberflächlichen Hausputz. Um der Gründlichkeit genüge zu
tun, hätte man die „Teppiche“ aufheben müssen, unter welche bereits so
vieles gekehrt wurde.
Dieses Gericht hat sicherlich versucht, im Rahmen der gesetzlichen
Möglichkeiten, zur Aufklärung beizutragen.

Das auch nach Prozessende unter diesen Teppichen noch Schmutz liegen
wird, ist den Traditionslinien einer paranoiden, menschenverachtenden
Ideologie geschuldet. Einer Ideologie, die in diesem Land lediglich Tod
und Leid hervorgebracht hat.

Die Chance auf einen Bruch mit diesen Traditionslinien haben die
Verantwortlichen durch die Verhinderung einer umfassenden Aufklärung
verpasst.

4.
Es ist mir an dieser Stelle ein Anliegen auf einen außergewöhnlichen
Menschen zu sprechen zu kommen. Er ist uns in den letzten Jahren nicht
nur ein guter Freund, sondern auch Teil unserer Familie geworden.

Auf eine für uns, bemerkenswert selbstlose Weise hat er nicht aufgehört
Recherchen voranzutreiben und uns als seiner Familie und Mandanten viele
Fragen zu beantworten und uns mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Ich weiß, dass seine unermüdliche investigative Arbeit maßgeblich zur
Aufklärung vieler Ungereimtheiten beigetragen hat.

Als ich im Frühjahr 2011 unseren Anwalt, Hrn. Narin, das erste Mal traf,
berichtete er mir schon damals von einem offensichtlichem Zusammenhang
der damals so genannten „Döner-Morde“ und dem Kölner Nagelbomben-Attentat.

Mir erschloss sich damals noch nicht, warum diverse Sonderkommissionen,
mit all ihren Möglichkeiten nicht in der Lage waren, ebenfalls diese
Verbindungen herzustellen.

Auch all seine weiteren Ermittlungsergebnisse bezüglich der Taten waren
derart schlüssig für mich, dass ich ihm das Mandat erteilte.
Es wundert mich heute nicht mehr, dass ich unmittelbar nach der
Verpflichtung von Herrn Narin Besuch von einem Ermittler der „Soko Theo“
bekam. Dieser beschrieb mir Herrn Narin als äußerst dubiosen Menschen
und riet mir, die Mandatserteilung zu revidieren. Sein Besuch hat genau
das Gegenteil bei mir bewirkt.

Die zahlreichen Rechercheergebnisse unseres Anwalts haben sich im Laufe
der Zeit alle bewahrheitet und nicht nur bei uns zur Aufklärung beigetragen.

5.
Während der Jahre wurden gegen Yavuz Narin einige Ermittlungsverfahren
eingeleitet, unter anderem wegen Geheimnisverrats.

Dazu möchte ich folgendes sagen: Geheimnisse die dazu dienen, Verbrechen
und desaströses Fehlverhalten zu vertuschen sind nicht schützenswert!!!

An dieser Stelle möchten wir Angelika Lex gedenken, die nach schwerer
Krankheit verstorben ist und leider nur einen Teil der Strecke mit uns
zurücklegen konnte. Auch Dir, Angelika, und deiner Familie gilt unser
Dank für das Engagement.

Abschließend möchte ich noch auf einen der Angeklagten zu sprechen
kommen. Uns ist bewusst dass die folgenden Ausführungen bei einigen auf
Unverständnis stoßen werden. Dennoch haben wir uns dazu entschieden
diesen Weg zu gehen.

Über die vermittelnden Rechtsanwälte kam ein persönliches Gespräch mit
Hrn. Carsten Schulze zustande. Dieses Zusammenkommen war einer der
schwierigsten aber auch einer der emotionalsten Momente in unserem Leben.

Hrn. Schulze haben wir in diesem Gespräch als einen Menschen erlebt, der
sein Mitwirken zu tiefst bereute und dem das eigene Gewissen bereits den
größten Teil seiner Strafe auferlegt hat.

Jemanden, der über ein Unrechtsbewusstsein verfügt und der zur Reue
fähig ist. Eigenschaften, die wir bei den anderen Angeklagten in all der
Zeit bei besten Willen nicht ausmachen konnten.

Wir wünschen uns, dass ihm sein Strafmaß die Möglichkeit gibt, sein
Leben in positivere Bahnen zu lenken.

6.
Ich weiß, dass mein Mann gern gesehen hätte, wie seine kleinen Töchter
zu Frauen herangewachsen sind. Wie gern er seine Mädchen zum Traualtar
geführt hätte oder wie stolz er gewesen wäre, als seine Enkeltochter
geboren wurde.

Ich weiß auch, wie viele der hier beteiligten Nebenkläger geliebte
Menschen verloren haben, oder anderes Leid erfahren mussten.

Aber ich weiß auch, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können.

Eines aber können wir tun: Nicht aufhören zu fragen.
Wir alle sollten auch nach diesem Prozess nicht aufhören, nach Antworten
zu suchen. Vielleicht werden wir nie alles erfahren, aber wir werden die
unzähligen Puzzleteile sammeln und zusammenfügen, bis das Bild der
Wahrheit vor unseren Augen zu erkennen ist.

Dann müssen auch alle anderen hinsehen.