Das Oberverwaltungsgericht hat einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen bestätigt, nach dem ein Herr Sami A. aus Tunesien zurückgeholt werden muss. Warum das so ist, hat das Oberverwaltungsgericht in einer ausführlichen und sachlichen Erklärung erläutert, die auch sehr viele Fragen beantwortet.
Der nordrhein-westfälische Innenminister Reul hat erkennbar diese Erklärung nicht gelesen und auch sein Kollege, der Justizminister, hat ihn offenbar nicht darauf hingewiesen. Reul äußerte dann unter anderem:
„Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen.“
Zurecht hat er dafür massive Kritik geerntet, die allerdings aus meiner Sicht viel zu kurz greift, weil sie vor allen Dingen kritisiert, dass das Rechtsempfinden der Bevölkerung kein Maßstab für Gesetze oder gerichtliche Entscheidungen sein kann. Damit wird aber auch suggeriert, dass „das Rechtsempfinden der Bevölkerung“ für die Abschiebung von Sami A. wäre. Das kann nun mit Fug und Recht bezweifelt werden.
Ist die Mehrheit der Bevölkerung oder nur der Innenminister für Folter?
Wie man der Veröffentlichung des OVG entnehmen kann, gab es bereits seit 2010 eine rechtskräftige Entscheidung, nach der ein Abschiebehindernis vorliegt, „weil Sami A. in Tunesien Folter und unmenschliche Behandlung droht“. Diese Entscheidung ist bis heute zwar von der Verwaltung aufgehoben, von den Gerichten wurde die Aufhebung bisher nicht bestätigt, weil sie es bisher nicht für nachgewiesen halten, dass Sami A. keine Folter droht. Die einfache Frage an das Rechtsempfinden der Bevölkerung lautet also: Soll man Menschen in Länder ausliefern, in denen sie gefoltert werden oder ihnen die Todesstrafe droht? Ich wage zu behaupten, dass abgesehen von den Scharfmachern auf der Rechten, die jetzt in Innenminister Reul ihren willfährigen Unterstützer finden, mindestens 70 % bis 80 % der Bevölkerung dagegen sind. Entspräche die Folter dem Rechtsempfinden der Bevölkerung, so dürfte auch bald die Anwendung der Folter in diesem Lande mit dem entsprechenden Empfinden gerechtfertigt werden.
Der „mutmaßliche“ Leibwächter Bin Ladens
Hinzu kommt allerdings ein Weiteres: Sami A. geistert immer als „mutmaßlicher Leibwächter Bin Ladens“ durch die Zeitungen. Auch hier ist allerdings die Rechtslage klar. Im Jahre 2006 hat der Generalbundesanwalt gegen Sami A. ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil er eventuell Mitglied einer ausländischen terroristischen Vereinigung gewesen sei. Im Jahre 2007 wurde das entsprechende Ermittlungsverfahren eingestellt, weil auch nach Meinung des Generalbundesanwaltes kein hinreichender Tatverdacht besteht, das heißt die Indizien gegen Sami A. so gering waren, dass für den Fall einer gerichtlichen Untersuchung ein Freispruch deutlich wahrscheinlicher gewesen wäre als eine Verurteilung. Natürlich wäre er – wenn er tatsächlich der Leibwächter Bin Ladens war – auch Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen. Da eine Einstellung im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht in Rechtskraft erwächst, kann die Bundesanwaltschaft jederzeit bis zum Ende der Verjährung, die mindestens 20 Jahre beträgt, die Ermittlungen wieder aufnehmen. Es muss festgehalten werden, dass trotz der Aufregung um Sami A. (und obwohl die BILD und andere von der Täterschaft überzeugt sind) der Generalbundesanwalt offenbar bis heute keine Veranlassung hatte, das Ermittlungsverfahren erneut aufzunehmen, weil er wohl keinerlei hinreichende Anhaltspunkte dafür sieht.
Der Begriff „mutmaßlich“ (mit die Presse sich wohl gegen mögliche Ansprüche schützen will) wird allerdings in der öffentlichen Debatte immer angewandt, um zu signalisieren, dass man doch „eigentlich“ den richtigen Täter vor sich hat und nur wegen der „Unschuldsvermutung“ noch „mutmaßlich“ dazu sagen muss. So war etwa Ralf Wohlleben der „mutmaßliche“ Waffenlieferant und Beate Zschäpe eine „mutmaßliche“ Mörderin. Mit dem Begriff „mutmaßlicher Leibwächter Bin Ladens“ wird also suggeriert, dass eigentlich das sowieso schon fest steht, nur noch die Verurteilung fehlt, während es tatsächlich genau umgekehrt ist, dass die Untersuchung durch die höchste Anklagebehörde der Bundesrepublik keine ausreichenden Verdachtsmomente ergeben hat. Würde man dem „Rechtsempfinden der Bevölkerung“ auch noch mitteilen, dass es keine belastbaren Indizien für dieses „mutmaßlich“ gibt, so dürfte die Zahl derjenigen, die Beifall klatschen, wenn jemand an die Folter ausgeliefert werden soll, noch einmal geringer werden. Ich glaube, wir hätten mehr Grund, das „Rechtsempfinden der Bevölkerung“ gegen Reul zu verteidigen, als nur die Unabhängigkeit der Justiz gegen ein angebliches Rechtsempfinden.
Eberhard Reinecke
P.S. Die jetzige Entschuldigung von Reul ändert nichts an der Haltung zur Folter. Gerade dazu sagt Reul nichts.