Am 1.10.2013 wird im NSU Verfahren erstmals ein Beamter des Verfassungsschutz als Zeuge gehört werden, der im Internetcafe in Kassel anwesend war, als dessen Betreiber erschossen wurde. Er wird mit Sicherheit nicht der letzte Zeuge aus diesem Geheimdienst sein, der im Verfahren auftritt. Wir dokumentieren hier die Erklärung von Bürgerrechtsorganisationen anlässlich der Veröffentlichung ihres Memorandums zur Abschaffung des Verfassungsschutzes. Das vollständige Memorandum finden sie hier:.
„Ineffizient, überflüssig, demokratiefeindlich und unkontrollierbar“
Gemeinsames Memorandum von Bürgerrechtsorganisationen fordert Auflösung der Verfassungsschutzämter
Mehrere bundesdeutsche Bürgerrechtsorganisationen präsentieren am heutigen Freitag, den 20. September 2013, in Berlin ein gemeinsames Memorandum zur Auflösung des „Verfassungsschutzes“ (VS). Die Autoren und unterstützenden Organisationen appellieren an die Politiker/innen aller Parteien, nach den jüngsten Geheimdienst-Skandalen endlich durchgreifende rechtspolitische Konsequenzen zu ziehen. Der Inlandsgeheimdienst habe sich wiederholt als ineffizient, überflüssig, demokratiefeindlich und unkontrollierbar erwiesen. Es handle sich dabei um permanente, systembedingte Defizite, die alle bisherigen Versuche einer Reform der VS-Behörden in Bund und Ländern überstanden haben. Die Verfassungsschutzbehörden sollten deshalb ersatzlos abgeschafft werden. Die Bürgerrechtsorganisationen rufen Bürgerinnen und Bürger dazu auf, ihre Forderung zu unterstützen.
Keine Sicherheitslücke bei Auflösung der VS-Behörden des Bundes und der Länder
Till Müller-Heidelberg (Humanistische Union) weist darauf hin, dass bei einer Auflösung des Bundesamtes und der 16 Landesbehörden für „Verfassungsschutz“ keine „Sicherheitslücken” entstünden. „Auch wenn heute immer wieder die Gefahr terroristischer Anschläge beschworen wird – davor schützt uns kein Verfassungsschutz. Seine gesetzliche Hauptaufgabe besteht darin, Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu sammeln.” Was „Verfassungsschützer“ darunter verstünden, lasse sich in jedem ihrer Jahresberichte nachlesen. Der VS registriere missliebige politische Auffassungen und denunziere deren Vertreter. „Keine der so genannten terroristischen Aktivitäten hat die Sicherheit von Bund und Ländern oder deren Verfassungsorgane ernsthaft gefährdet.” Bei „terroristischen” Taten handle es sich um mehr oder weniger gravierende Straftaten. „Für die Abwehr unmittelbar bevorstehender Gefahren sowie die Aufklärung solcher Gewalttaten ist allein die Polizei zuständig”, so Müller-Heidelberg. Er verweist zudem auf den jährlich von Bürgerrechtsorganisationen herausgegebenen „Grundrechte-Report“, der die Gefährdungen für Demokratie und Verfassungsordnung bilanziere. Diese gingen überwiegend von staatlichen Sicherheitsorganen, anderen Behörden und Wirtschaftsunternehmen aus. „Um Bedrohungen für unsere demokratische Gesellschaft zu erkennen, bedarf es keiner Geheimdienste. Die Expertisen zivilgesellschaftlicher Gruppen und sozialwissenschaftlicher Forschungen sind den Berichten und Lageeinschätzungen der amtlichen „Verfassungsschützer“ deutlich überlegen, wenn es etwa um Diagnose, Analyse und Früherkennung rassistischer Strukturen oder gewaltorientierter Gefahrenlagen geht. Und sie kommen ohne Schnüffeleien und unüberprüfbare Verrufserklärungen aus”, betont der Mitherausgeber des seit 1997 erscheinenden „alternativen Verfassungsschutzberichtes”.
Skandale, Machtmissbrauch und Bürgerrechtsverletzungen als Strukturprobleme
Für Rolf Gössner (Internationale Liga für Menschenrechte) sind die aktuellen Affären um NSU und NSA ein weiterer Beleg dafür, dass Geheimdienste wie der VS strukturell unkontrollierbar sind, skandalträchtig arbeiten und zur Verselbständigung neigen. „Das ist eine große Gefahr für viele Menschen und ihre Bürgerrechte. Unser Memorandum erinnert daran, dass die 63jährige Geschichte des VS eine Geschichte der Skandale und Bürgerrechtsverletzungen ist.” Gössner stellt klar, dass sich die Kritik am VS nicht etwa gegen sämtliche MitarbeiterInnen richte: „Es geht nicht in erster Linie um individuelles Fehlverhalten oder inkompetente VS-Bedienstete, sondern um intransparente, unkontrollierbare und deshalb demokratiewidrige Arbeitsweisen und Strukturen der VS-Behörden.” Deshalb würden auch die jetzt laufenden punktuellen Reformbemühungen dem Problem keineswegs gerecht. „Mehr IT-Kompetenz, eine bessere Quellenauswertung und neue Richtlinien zum Aktenumgang sind hilflose und untaugliche Versuche, denn sie lösen weder die strukturelle Blindheit des VS gegenüber den Gefahren von Rechts und aus der Mitte der Gesellschaft noch die im Kern demokratie- und rechtsstaatswidrige Arbeitsweise der Behörde.“ Mit Blick auf die vorgeschlagene Stärkung der Kompetenzen des Bundesamtes warnt Gössner: „Es wäre der Grundstein zum nächsten Skandal, wenn der VS am Ende gestärkt aus dem gewaltigen Desaster, das er selbst angerichtet hat, hervorginge. Ihm sollten schleunigst die nachrichtendienstlichen Mittel und Methoden entzogen werden – damit die Gesinnungskontrolle und das kriminelle V-Leute-Unwesen endlich ein Ende finden.” Eine Auflösung des geheimdienstlichen VS sei auch mit dem Grundgesetz vereinbar – die Verfassung schreibe keineswegs vor, dass die Behörde mit geheimdienstlichen Kompetenzen auszustatten sei.
Gescheiterte parlamentarische und gerichtliche Kontrollversuche
Der Freiburger Rechtsanwalt Udo Kauß (Humanistische Union) betrachtet sämtliche Versuche einer parlamentarischen wie datenschützerischen Kontrolle des Geheimdienstes als gescheitert. „Am verfassungsschützerischen System der Geheimhaltung, das dem Schutz der V-Leute und anderer Informationsquellen dient, scheitern regelmäßig Justiz, Parlamente und Datenschutzbeauftragte. Jene Behörde, die Verfassung und Demokratie schützen soll, erweist sich damit selbst als demokratische Gefahr, weil sie den Grundprinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht.” Bezeichnenderweise wurde keiner der Geheimdienstskandale von den Kontrolleuren aufgedeckt. “Die Arbeit der parlamentarischen Kontrollgremien selbst bleibt im Geheimen. Konsequenzen muss der Dienst kaum fürchten – die Kontrolleure dürfen darüber in der Öffentlichkeit nicht reden.” Als Rechtsanwalt erlebe er immer wieder, wie Gerichtsverfahren, an denen der Verfassungsschutz beteiligt ist, zu Geheimverfahren mutieren. „All das widerspricht rechtsstaatlichen Grundsätzen und ist schlicht demokratiewidrig”, so Kauß. Auch wenn der VS jetzt mit verstärkter Öffentlichkeitsarbeit um mehr Vertrauen in der Bevölkerung werbe, gelte weiterhin: „Ein transparenter, effektiv kontrollierbarer Geheimdienst bleibt ein Widerspruch in sich.”
Memorandum & Informationen
Humanistische Union, vereinigt mit Gustav Heinemann-Initiative, Internationale Liga für Menschenrechte und Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen (Hg.): Brauchen wir den Verfassungsschutz? NEIN! Gemeinsames Memorandum von Bürgerrechtsvereinigungen zum Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“. 1. Auflage Berlin, Sept. 2013, 84 Seiten, ISBN: 978-3-930416-30-1
Erarbeitet von Dr. Rolf Gössner, Johann-Albrecht Haupt, Dr. Udo Kauß, Dr. Till Müller-Heidelberg und Thomas von Zabern. Mit Unterstützung von: Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, Chaos Computer Club, digitalcourage e.V., Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF), Komitee für Grundrechte und Demokratie
Die vollständige Textfassung des Memorandums, eine ausführliche Skandal-Chronik sowie weitere Informationen zum Verfassungsschutz finden sich auf der Webseite: http://www.verfassung-schuetzen.de. Für Rückfragen steht Ihnen der Geschäftsführer der Humanistischen Union, Sven Lüders, unter Rufnummer 01520 183 1627 gern zur Verfügung.
Autoren des Memorandums
* Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt (Bremen), Buchautor (zuletzt: „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates“, 2012), Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen; wurde vier Jahrzehnte lang rechtswidrig vom Bundesamt für Verfassungsschutz überwacht und ausgeforscht.
* Johann-Albrecht Haupt, Jurist (Hannover), ehem. Mitglied des Bundesvorstandes der HU.
* Dr. Udo Kauß, Rechtsanwalt (Freiburg), Vorsitzender der Humanistischen Union Baden-Württemberg, Spezialist für Verfahren gegen VS und Polizei, hat u.a. die Beendigung der 40jährigen Beobachtung des Mitverfassers Rolf Gössners durch den Verfassungsschutz erstritten.
* Dr. Till Müller-Heidelberg, Rechtsanwalt (Bingen), langjähriger Bundesvorsitzender der Humanistischen Union. Veröffentlichungen zu Innerer Sicherheit und VS, Sachverständiger bei Bundestag und Landtagen zu Gesetzentwürfen der Inneren Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung, erfolgreicher Prozessbevollmächtigter gegen rechtswidrige Beobachtung durch den VS
* Thomas von Zabern, Humanistische Union (Bremen).