Für die Abschaffung des § 166 Strafgesetzbuch
Auch für das Rechtswesen in Deutschland stellt sich die Frage nach Konsequenzen. Religiöse Fundamentalisten töteten im Januar 2015 in Paris 17 Menschen, darunter Zeichner der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und Besucher eines koscheren Supermarktes, und im Februar in Kopenhagen zwei Menschen bei einem Anschlag auf eine Synagoge und eine Kulturcafé-Veranstaltung zum Thema „Kunst, Gotteslästerung und Meinungsfreiheit“.
Bei diesen aktuellen (und zahlreichen anderen) Ereignissen ist anhand der Täterbekenntnisse unstrittig, dass es sich jeweils nicht nur um einen Anschlag auf die betroffenen Menschen handelte, sondern auch auf die Werte eines säkularen und freiheitlichen Gemeinwesens.
Was kann der Rechtsstaat jenseits von besserer Integration, effizienterer Vorfeldaufklärung und Strafverfolgung tun? Wie können wir unsere Gesellschaft angesichts von religiös motivierter Intoleranz und Gewalt resilienter machen? Damit die Menschen in einer pluralen Gesellschaft friedlich leben und auch Religionen koexistieren können. Rasch wird bei schockierenden Attentaten dieser Art in Politik und Medien die Verschärfung von Gesetzen gefordert. Vielversprechender ist jedoch die Aufhebung von bestimmten religiös geprägten Rechtsnormen, mit denen religiöse Besonderheiten auch in Deutschland verankert werden. Die den Religionen und den sich auf diese beziehenden Fundamentalisten eine Sonderstellung geben. Und die eine größere rechtspolitische Klarheit im Sinne eines säkularen und freiheitlichen Gemeinwesens verhindern.
Der folgende Zusammenhang ist wahrscheinlich: Gewaltsame Übergriffe religiöser Fundamentalisten in die Grund- und Menschenrechte, in die Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit, finden leichter in einem politischen und gesellschaftlichen Resonanzraum statt, in dem die Übergriffe der Religionsfreiheit in die Freiheitswerte der Grund- und Menschenrechte, in die Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit, zur althergebrachten Rechtspolitik gehören.
Daher ist aus dem Bereich des deutschen Religionsstrafrechts der § 166 Strafgesetzbuch als eine dieser Rechtsvorschriften ins öffentliche Blickfeld gerückt. Es handelt sich dabei um das Verbot der Gotteslästerung oder Blasphemie. Genauer, um das Verbot der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen.
Auch wenn die Bundestagspetition zur Abschaffung des § 166 Strafgesetzbuch Mitte Februar 2015 nicht die geforderten 50.000 Mitzeichnungen erhalten hat: die rechtspolitische und gesellschaftliche Relevanz zur Befassung der Gesetzgeber bei Bund und Ländern mit dem Ziel der Abschaffung dieser und vergleichbarer Vorschriften besteht!
Wie Michael Schmidt-Salomon, Antragssteller der Bundestagspetition und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) feststellte: „Man muss sich vergegenwärtigen, dass nach deutschem Gesetz die Satiriker von ‚Charlie Hebdo‘ hätten verurteilt werden können, weil ihre Zeichnungen Fundamentalisten dazu animierten, Terrorakte zu begehen. Eine solche Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses dürfte es in einem modernen Rechtsstaat nicht geben!“ und der Gesetzgeber müsse klarstellen, dass er die „Freiheit der Kunst höher gewichtet als die verletzten Gefühle religiöser Fanatiker.“
Neben den politischen Argumenten gibt es aber auch rechtliche Argumente, den Gotteslästerungsparagraphen ersatzlos zu streichen. Ist der Eingriff in die Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit in Artikel 5 des Grundgesetzes durch § 166 Strafgesetzbuch notwendig und verhältnismäßig? Das darf bezweifelt werden. Zwar werden diese Freiheiten nicht grenzenlos gewährt und das Grundgesetz und die internationalen Menschenrechtsabkommen schützen neben der Meinungsfreiheit auch die Religionsfreiheit. Allerdings ist diese keinesfalls höher zu gewichten als die Meinungsfreiheit – also das Gegenteil dessen wie es die Regelung des § 166 Strafgesetzbuch nahelegt.
Darf Meinungsfreiheit, Kunst und Satire alles? Selbstverständlich nicht: Personen und Personengruppen sind in Deutschland hinreichend per Gesetz geschützt, unter anderem bei Beleidigung (§185 Strafgesetzbuch), übler Nachrede (§ 186 Strafgesetzbuch), Verleumdung (§ 187 Strafgesetzbuch) und Volksverhetzung (§ 130 Strafgesetzbuch).
Noch im Jahr 2014 beschloss dahingegen der 70. Deutsche Juristentag die Empfehlung, den § 166 Strafgesetzbuch beizubehalten, „da diesem, ebenso wie anderen friedensschützenden Tatbeständen, in einer kulturell und religiös zunehmend pluralistisch geprägten Gesellschaft eine zwar weitgehend symbolhafte, gleichwohl aber rechtspolitisch bedeutsame, werteprägende Funktion zukommt. Er gibt religiösen Minderheiten das Gefühl existenzieller Sicherheit.“
Abgesehen davon, dass § 166 Strafgesetzbuch ausgerechnet den kleinen Minderheiten keinen Schutz und damit kein Sicherheitsgefühl bietet, sondern nur größeren Religionsgruppen, kommt dem Blasphemie-Paragrafen in der Tat eine rechtspolitisch bedeutsame, werteprägende Funktion zu: in negativer Hinsicht.
Es ist kein rechtliches Argument bekannt, warum gläubige Menschen im säkularen Staat eine Bevorrechtung gegenüber Atheisten, Azahnfeeisten und allen sonstigen Nicht-Gläubigen, oder auch gegenüber Parteimitgliedern und Fußballvereinsmitgliedern erhalten sollen. Auch kirchenaffine Staatsrechtler wie Prof. Josef Isensee vertreten die Ansicht, dass eine Verschärfung des Blasphemieverbots, wie sie immer wieder populistisch von klerikal orientierten Spitzenpolitikern aus allen Parteien (nicht nur aus den Parteien mit Religionszuordnung im Namen) gefordert wird, gegen das Grundgesetz verstieße.
Recht ist religionsfreie Zone
Im Mittelalter sollten die Vorläufer des § 166 Strafgesetzbuch dazu dienen, die christliche Gemeinschaft vor dem Zorn ihres Gottes zu schützen. Sein rechtsgeschichtlicher Kontext ist aus der Zeit, als die unangefochtene Amtskirche die Religionsfreiheit als Kapitalverbrechen begriff. Auf das Vergehen stand der Tod im Diesseits und ergänzende, umfassende Folter im Jenseits. Das änderte sich im weltlichen Gerichtswesen Deutschlands durch die Aufklärung. Das Rechtsgut wandelte sich vom Schutz des Gottes, über den Schutz der Gefühle der Gottesgläubigen bis heute zum Schutz des öffentlichen Friedens. Denn Religionen konnten bislang nicht nachweisen, dass es den zentralen Gegenstand der Beschimpfung, den persönlichen Gott als Zentrum des beschimpften Bekenntnisses, überhaupt gibt. Und dennoch blieb der Geist des religiösen Vorrechtes bestehen und heute ermutigt das deutsche Blasphemie-Gesetz die gläubigen Menschen, sich beleidigt zu fühlen und ihre Emotionen aggressiv bis hin zur Gewaltsamkeit zu äußern.
Wen schützt der Paragraf? Es sind keine Fälle bekannt (und denkbar), dass Anhänger einer humanistisch, rational und säkular orientierten Weltanschauung gemäß § 166 Strafgesetzbuch durch Satire und Spott ihre Gefühle verletzt sähen, daraufhin den öffentlichen Frieden stören und ihre Attentatsopfer (jedenfalls die Überlebenden) für 3 Jahre ins Gefängnis einwandern sollen. Dafür bietet eine Weltanschauung, die sich nicht auf die mutmaßlichen Vorgaben eines übernatürlichen, allmächtigen und allwissenden Wesens beruft, keinen Anlass und keine Rechtfertigung. Würde beispielweise ein evolutionärer Humanist zur Gewalt greifen, Menschen und öffentliche Gebäude anzünden, wenn an seiner Weltanschauung scharfe Kritik vorgebracht wird? Wenn beispielsweise Darwins Evolutionslehre nicht belegbar oder gar widerlegt sei; eine menschliche Stammzelle nicht eine Zelle, sondern ein beseelter Mensch sei; der Mensch kein sterblicher Trockennasenaffe, sondern Gottes Ebenbild mit ewigem Seelenleben sei. Der evolutionäre Humanist würde – auch bei scharfer Kritik – diese auf Grund seiner Weltanschauung willkommen heißen (müssen). Wenn es sich bei den Beschimpfungen um wahre Tatsachenbehauptungen handelt oder er damit auf innere Widersprüche seiner Thesen hingewiesen würde, wird er seine Weltanschauung sogar der Realität anpassen. Und nicht den umgekehrten Weg wählen. Kein evolutionärer Humanist würde auf Grund seiner Weltanschauung den öffentlichen Frieden in einem demokratischen Rechtsstaat stören oder seinen Mitmenschen damit drohen (können).
Weltanschauliche Bekenntnisse, die auf dem Diesseits, auf Humanismus, Naturalismus und wissenschaftlicher Rationalität basieren, haben keinen Absolutheitsanspruch. Schon deshalb können sie nicht herangezogen werden, um einen Hegemonialdrang über andere Bekenntnisse und Personen auf Grund von unhintergehbaren Wahrheiten auszuüben. Sie halten scharfe Kritik aus.
In der deutschen Rechtspraxis richtet sich § 166 Strafgesetzbuch demnach ausschließlich an die Anhänger einer Religion (hier: Christentum und Islam und deren zahlreiche Gruppierungen), die unantastbare heilige Schriften und absolutierte „Wahrheiten“ in das gesellschaftliche Leben hineintragen. Deutschland schafft für diese Personen und Gruppen einen (weiteren) Sonderrechtsbestand. Gläubige, die den Vorwurf der Blasphemie machen und hierfür sogar über ein eigenes Religionsstrafrecht ihre Mitmenschen strafrechtlich belangt sehen wollen, bringen damit eine Sichtweise mit enormem Eskalations- und Gewaltpotential in die deutsche Gesellschaft ein. Es gibt keinen rechtlichen Grund, warum die deutsche Justiz weiterhin religiöse Bekenntnisse mit einem Sonderstraftatbestand schützen sollte.
In Ergänzung der oben genannten Bundestagspetition sind rechtliche Argumente zur Abschaffung des § 166 Strafgesetzbuch:
Rechtsstaatsprinzip
Nach Grundgesetz Art. 103 Abs. 2 muss die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt sein, bevor die Tat begangen wurde. Jedoch wird nach § 166 Strafgesetzbuch die Meinungsäußerung erst nachträglich durch das Handeln des „Opfers“ zu einer Straftat, nämlich, wenn das „Opfer“ für eine Störung des öffentlichen Friedens sorgt oder damit droht oder einer Religionsgruppe angehört, bei der die deutschen Strafverfolgungsbehörden mit einer Störung des öffentlichen Friedens rechnen können.
Ist es den Künstlern, Kabarettisten, Satirikern, freien Bürgerinnen und Bürgern bei der Ausübung ihres Grundrechtes auf freie Meinungsäußerung aufzuerlegen, vorab die Gewaltbereitschaft religiöser Gruppen strafrechtlich zuverlässig einzuschätzen?
In der deutschen Gesellschaft ist weithin akzeptiert, dass dies bei bestimmten religiösen Normen möglich ist. Zu den Grenzen seiner Meinungsfreiheit sagte der Kölner Kabarettist Jürgen Becker zuletzt in der Debatte, ob es für die öffentliche Sicherheit verantwortbar sei, wenn im Kölner Rosenmontagsszug ein Charlie-Hebdo-Wagen mitfahre: „Gefährdung muss man mit kalkulieren, das tue ich auch. Ich halte mich etwa immer an das Bilderverbot und würde nicht Mohammed zeigen.“ Es hat sich eingespielt, dass der Kabarettist stattdessen bei seinen Auftritten und Fernsehsendungen anstelle eines Mohammed-Abbildes ein Fotografie-Verbotsschild hochhält. Dahingegen hätte der deutsche Gesetzgeber in seiner säkularen Ausrichtung bei den Gläubigen jeglicher Fasson jeglichen Zweifel zu beseitigen, dass deutsche Gerichte zum Erfüllungsgehilfen der Wertevorstellungen religiös-fundamentalistischer Gewalt werden: sei es strukturelle Gewalt, wie sie sich in der Selbstzensur freier Bürger aus nachvollziehbarem Eigenschutz zeigt, oder konkrete Gewalt, wie sie durch einzelne Gefährder und größere Gruppen des religiösen Mobs gegen Sachen und Menschen ausgeübt wird. Der § 166 Strafgesetzbuch trägt unmittelbar zu diesem Zweifel bei. Es passt nicht in einen Rechtsstaat, wenn Kabarettisten auf ein Stück ihrer Meinungsfreiheit zu verzichten haben, um nicht um ihr Leib und Leben bangen zu müssen.
Grundsätzlich ist bei der Vielzahl an Religionen und der Vielzahl an Glaubensrichtungen innerhalb einer Religion (allein im Christentum über 300 sich gegeneinander abgrenzende Gruppierungen) für die meinungsäußernden Bürgerinnen und Bürger keine Prognose möglich, wodurch und bei wem religiöse Gefühle verletzt werden, und ob dadurch bestimmte Personengruppen das Eigentum und das Leben ihrer Mitmenschen zerstören und den öffentlichen Frieden verletzen werden.
Daher ist § 166 Strafgesetzbuch in einer religiös pluralen Gesellschaft nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar.
Unbestimmtheit des Rechtsguts
Nach Strafgesetzbuch § 166 Abs. 1, ist das Rechtsgut der „Inhalt des religiösen … Bekenntnisses“. Nach Abs. 2 zusätzlich auch die Kirche, ihre Institutionen und Gebräuche.
Es ist weitgehend unbestimmt, was eigentlich das Rechtsgut eines nach § 166 Strafgesetzbuch geschützten Religionsbekenntnisses im Einzelnen sein soll. Bibel und Koran sind jeweils in zentralen Bekenntnisinhalten widersprüchlich und helfen hier nicht zu einer Klarheit. Die deutsche Rechtsprechung scheint hauptsächlich von der Geographie des Gerichtsstandes, dem Datum der Verhandlung und der weltanschaulichen Erziehung von Staatsanwalt und Richter geprägt zu sein.
Was ist das Rechtsgut, was soll hier geschützt werden? Die Person des auf andere Götter eifersüchtigen und durch seine eigenen Menschengeschöpfe leicht zu beleidigenden Bronzezeit-Gotts orientalischer Halbnomaden, der von den hierzulande größten Religionsgruppen der Christen, Moslems und Juden angenommen wird? Dieser oder ein anderer Gott hat auf Grund von Gottesbeschimpfung noch nie nachweislich den öffentlichen Frieden in Deutschland gestört. Die Gefühlswelt eines Gottes ist seit der Aufklärung nicht mehr das Rechtsgut. Die Würde eines Gottes ist unfassbar. Wo kein Kläger, da kein Richter. Heute gehört der öffentliche Frieden zum Rechtsgut. Dieser ist Gegenstand der Gefühle und Handlungen der Gläubigen. Daher konstituieren religiöse Gefühle mittelbar das Rechtsgut von § 166 Strafgesetzbuch.
Worauf basieren diese religiösen Gefühle? Ist angesichts der Unbestimmtheiten und Widersprüchlichkeiten der landläufigen religiösen Bekenntnisse nicht vielmehr anzunehmen, dass es sich bei den § 166er-Tatbeständen, die sich auf Religionsbeschimpfung mit Bezug zu übernatürlichen Eingriffen beziehen, sämtlich um wahre Tatsachenbehauptungen handelt? Letztlich braucht es hierfür nur das Schriftstück, die Zeichnung oder Karikatur verbunden mit einer Wahrheitsbehauptung. Denn auf der Seite der religiösen Bekenntnisse liegt kein beweiskräftigerer Schriftsatz vor. Eine wahre Tatsachenbehauptung kann im Rechtsstaat – selbst wenn sie in Schärfe vorgebracht wird – nie als Beschimpfung gewertet werde.
Die Welt und damit auch das deutsche Rechtswesen sind nach Auffassung beispielsweise der christlichen und muslimischen Bekenntnisse voller übernatürlicher Eingriffe („Wunder“) in das Denken und Handeln der Menschen. Wenn diese religiösen Bekenntnisse wahr wären, wären von diesen übernatürlichen Eingriffen das Strafrecht und Zivilrecht – letztlich alle Rechtsgebiete – betroffen. Gerichtsrelevante Sachverhalte sind jedoch aus den religiös propagierten übernatürlichen Eingriffen in das Weltgeschehen bislang in keinem Fall nachweislich entstanden.
Wenn der deutsche Gesetzgeber (auf Grund des nicht-repräsentativen, religiösen Fraktionszwangs der Regierungsparteien) den § 166 Strafgesetzbuch beibehalten möchte, wäre es rechtspolitisch konsequenter, das ursprüngliche und eigentliche Rechtsgut dieser Norm wieder herauszustellen: die Blasphemie.
Damit könnte ein Übergriff von Strafgesetzbuch § 166 in die Grund- und Menschenrechte, in die Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit, in Theorie und Rechtspraxis vermieden werden. Formulierungsvorschlag (in größtmöglicher Anlehnung an den aktuellen Gesetzestext):
Wer einen Gott beschimpft und der Gott auf Grund der Beschimpfung seines Bekenntnisses nachweislich den öffentlichen Frieden stört, oder die Beschimpfung geeignet ist, nachweislich einen Gott zur Störung des öffentlichen Friedens zu veranlassen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Sollte dieser Fall eintreten, wäre es dem Gesetzgeber ohnehin anzuraten, das gesamte Bekenntnis des betreffenden Gottes in das Gesetz zu überführen 😉
Öffentlicher Friede
Das derzeit einzig einigermaßen greifbare Entscheidungskriterium, nämlich die Frage der Störung des öffentlichen Friedens, liegt im Ermessen der religiös Beleidigten. Denn nur sie können die notwendige Grundlage für die Verurteilung von Kabarettisten, Satirikern oder anderen Personen schaffen, von denen sie sich beleidigt fühlen. Damit ist der § 166 Strafgesetzbuch auch eine „Aufforderung zum Faustrecht“ wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung im Januar titelte.
Ungleichbehandelt wird der, der friedliebend und tolerant ist, und nicht eskaliert. Recht hat der, der gefühlsmäßig religiös reizbar ist; derjenige, der die Eskalation seiner inneren Gefühlswelt in die Bevölkerung und die Bevölkerung zu (gewaltsamen) Ausschreitungen auf die Straße bringt – oder unserem Rechtssystem glaubhaft damit droht.
Die im Jahr 2005 in Dänemark veröffentlichten Mohammed-Karikaturen wurden nicht zuletzt durch die Blasphemie-Anzeige islamischer Organisationen nach § 140 des dänischen Strafgesetzbuches emotionalisiert, woraufhin es weltweit zu Ausschreitungen vor europäischen Botschaften und Kulturzentren kam und die Blasphemie-Eskalation zu Mord und Totschlag führte. Genauso richtet sich das deutsche Strafgesetzbuch und die Rechtsprechung daran aus, dass es religiöse Bekenntnisse gibt, die das Zeichnen oder Karikieren eines der orientalischen Religionsstifter mit dem Tode bestraft sehen wollen.
In einer zunehmend pluralistischer werdenden Gesellschaft fördert der Blasphemie-Paragraf falsche Erwartungen von Gläubigen an die Rolle und den säkularen Standpunkt des Staates. Das Vorgehen islamischer Organisationen in Dänemark hat dies in einem traurigen Beispiel in der Realität aufgezeigt. Er behindert damit die friedensförderliche Entwicklung innerhalb von Religionsgemeinschaften, die den Weg der Aufklärung aus ihren eigenen absoluten „Wahrheiten“ zur Akzeptanz des Anderen und von Anderen gehen. Er wirft die Debatte zwischen Religionsgemeinschaften und säkularen Gruppen zurück. Er fördert die gewaltsame Eskalation.
Strafgesetzbuch § 166 verfehlt seinen Zweck. Er schützt nicht das Rechtsgut des öffentlichen Friedens.
Religionsfreiheit und Schutzauftrag des Staates
Sonderbar wird es, wenn in der aktuellen rechtspolitischen Debatte effektiv die Unterwerfung freiheitlich säkularer Prinzipien unter die religiösen Ansichten der Feinde einer offenen Gesellschaft gefordert wird. So wie der Bonner Jura-Professor Christian Hillgruber Ende Januar in der FAZ die „Wahrung des religiösen Friedens […] als die Staatsaufgabe schlechthin“ darstellte und die „Duldung von Religionsdiffamierung“ (ein schlechterdings gar nicht definierbarer Tatbestand) als „Integrationshindernis ersten Ranges“ einstufte. So zeigt sich eine unselige Allianz amtskirchlicher Ansichten mit den integrationsunwilligen Gläubigen anderer Religionen. Nicht die säkulare Gesellschaftsordnung hat sich einzelnen Religionsgruppen anzupassen, sondern umgekehrt. Andernfalls könnte letztlich jede religiöse oder nicht-religiöse Gruppe vom Staat einen besonderen Schutz und Strafrechtsbestand fordern. Oder sich ansonsten der Integration und der Sozialisation in Deutschland verweigern und sich dabei noch im Recht wähnen. Außerdem ist eine derartige Schutzpflicht verfassungsrechtlich nicht vorgesehen.
Die Unbestimmtheit des Rechtsguts in Verbindung mit einem fehlgeleiteten Schutzauftragsverständnis des Staates führt zu allerlei rechtlichen Irrungen und Wirrungen. Die Auswertung der Rechtsprechung zeigt, dass bei dem opaken Inhalt von § 166 Strafgesetzbuch die weltanschauliche Präferenz der rechtsprechenden Strafinstanz entscheidend ist. Dadurch wird der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Einige Beispiele:
Der auf einem Anstecker ausdruckverliehene Wunsch „Lieber eine befleckte Verhütung als eine unbefleckte Empfängnis“ ist strafbar. Warum? Weil gemäß eines der religiösen Dogmen in der Spätbronzezeit mutmaßlich eine der orientalischen Göttlichkeiten den Körper eines Kuckuckskindes eines jüdischen Schreiners annahm und im 21. Jahrhundert die Gefühle von Personen an dieser Überzeugung derart hängen, dass bei einer scharfen Kritik an dieser Überzeugung ebenjene Personen bis hin zur Störung des öffentlichen Friedens in Deutschland reizbar sind. Und deswegen bestraft die Bundesrepublik scharfe Kritik an dieser Überzeugung von der mutmaßlichen Jungfrauengeburt einer der antiken Götter des Vorderen Orient.
Bestraft die Bundesrepublik dieselben Meinungsäußerungen zu mutmaßlichen Jungfrauengeburten des Sohnes des altägyptischen Gottes Amun-Re, Saoschjant als Sohn des persischen Religionsstifters Zarathustra oder des griechischen Perseus als Sohn der Danaë und des Gottes Zeus? Nein.
Gilt diese rechtliche Sonderstellung für die Gründer, Institutionen und Riten von politischen Parteien oder Fußballvereinen? Vor allem wenn Letztere mit teilweise fanatischen Anhängern und religiösen Fußballgott-Denkmustern aufwarten – zumindest beim 1. FC Köln? Ebenfalls nein.
Auch heute noch werden in Deutschland nach § 166 Strafgesetzbuch zu folgendem Themenkomplex Strafen verhängt: So ist „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (Artikel 3, Katechismus der Katholischen Kirche), wenn Kirchenmitglieder bei ihren Versammlungen die Fleischsubstanz eines im 1. Jahrhundert lebenden Juden (jedoch mit nur einem Teil dessen aus religiösen Gründen zuvor verstümmelten primären Geschlechtsorgans) in Form eines keksähnlichen Gebäcks tatsächlich essen und dessen Blutsubstanz tatsächlich trinken (Fachbegriff: „Eucharistie“).
Jedoch, Christentum im Zusammenhang mit Toilettenpapier: nicht strafbar.
Dahingegen, Islam im Zusammenhang mit Toilettenpapier: strafbar.
Warum sind die letztgenannten Urteile so gegensätzlich? Auffällig ist, dass sie sich hinsichtlich des kritisierten Religionstyps unterscheiden. Handelt es sich um ein Mobilisierungsproblem des christlichen Klerus? Sind Pfarrer und Priester weniger „erfolgreich“ als Mullahs, wenn es (um in der inhumanen Tiernamen-Diktion der christlichen Amtskirchen zu bleiben) darum geht, nicht ein einzelnes Schaf, sondern eine größere Herde zu öffentlicher Randale vor Redaktionsbüros, Fernsehanstalten oder den Einrichtungen unseres demokratischen Rechtsstaats zu bringen. Verkürzt gesagt, wenn es um die Erfüllung der Formel geht:
Anzahl x Aggressionsniveau der Gläubigen = Tatbestand nach § 166 Strafgesetzbuch.
Dabei gab es in den bisherigen 166er-Verfahren keine Fachgutachten zur Messung religiöser Gefühle und benchmarks zum Zusammenhang der Gefährdung des öffentlichen Friedens, welche bei der Rechtsauslegung dieser Formel helfen. So hat der jeweilige deutsche Richter einzuschätzen, ob die am Tag des Verfahrens zuständigen Mullahs gerade zum Sturm gegen deutsche Einrichtungen aufrufen, und er deswegen den Meinungsäußernden, den Künstler oder Satiriker in Haft setzt. Wobei hiermit natürlich nicht unterstellt wird, dass jeder Mullah eine Islamauslegung verkündet, die automatisch zu Islamismus, Scharia und Dschihad führt. Oder die Prediger des christlichen Gottes oder einer der Tausend anderen Götter, die irgendwo auf dieser Erde von Gläubigen verehrt werden. Denn wie Heinz-Werner Kubitza, promovierter Theologe und Autor des „Dogmenwahn“ im Februar im Deutschlandradio sagte: „Und auch in der christlichen Bibel und vor allem im Alten Testament finden sich genügend Stellen, die zur Vernichtung fremder Völker und zur Verfolgung Andersgläubiger aufrufen. Deshalb wird man wohl allgemeiner sagen müssen: Nicht nur der Islam, Religionen insgesamt scheinen ein Menschheitsproblem zu sein. Religiöse Rechthaberei in Verbindung mit heiligen Schriften ist Gift für ein friedliches Zusammenleben der Völker.“ und „Modernes Recht kommt nicht aus alten Schriften“.
Gedankenexperiment: Eine Meinungsäußerung über christliche oder islamische Glaubensinhalte ist im 21. Jahrhundert strafbar, während dieselbe Meinungsäußerung im 1. Jahrhundert bzw. 7. Jahrhundert (falls dann § 166 Strafgesetzbuch gegolten hätte) NICHT strafbar gewesen wäre.
Was ist heute mit denen, deren Kirche nicht nach § 166 Strafgesetzbuch geschützt ist und sie mutmaßlich in ihren Gefühlen verletzt werden. So sehen Pastafarianer des Öfteren ihre Nudeligkeit in unwürdiger Weise in der Öffentlichkeit erwähnt. Mit Berufung auf § 166 Strafgesetzbuch haben grundsätzlich auch Pastafarianer bei wachsender Anzahl und Reizbarkeit ihrer Glaubensgruppe das Recht, Strafantrag gegen Personen zu stellen, von denen sie ihr Bekenntnis beschimpft sehen. Beispielsweise, wenn ihre Kirche des fliegenden Spaghettimonsters in der Tagesschau als „Parodie“ bezeichnet wird, obwohl sie ein eigenes Evangelium haben und gleichberechtigt einen eigenen Religionsunterricht als anerkannte Glaubensgemeinschaft durchführen möchten.
Auf welcher objektivierbaren Grundlage soll die deutsche Justiz in Religionsangelegenheiten eine Parodie anders als eine eventuelle Nicht-Parodie einstufen? Der Glaube des Einen ist der Aberglaube des Anderen. Kein Gericht ist in der Lage, zwischen unterschiedlichen Bekenntnissen und daraus abgeleiteten Gebräuchen und Einrichtungen zu unterscheiden, die sämtlich auf übernatürlichen oder jenseitigen Ansichten beruhen, und deren Wahrheitsgehalt jeglicher empirischen Evidenz entbehrt.
Prof. Johannes Masing, Richter am Bundesverfassungsgericht, verwies insofern zutreffend auf die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts, wonach selbst sehr scharfe Kritik bis hin zur Vergiftung des geistigen Klimas nicht das Verbot von Meinungsäußerungen rechtfertigte. Die Religionsfreiheit schütze die Freiheit der Religionsausübung. Daraus ergebe sich aber kein Anspruch, vor Kritik bewahrt zu werden.
Internationale Verpflichtungen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sich – soweit ersichtlich – noch nicht abschließend zu der Frage der Vereinbarkeit von Blasphemie-Gesetzen wie dem § 166 Strafgesetzbuch in Deutschland mit der Europäischen Menschenrechtskonvention geäußert.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Deutschland in Sachen Meinungsfreiheit unfreier ist, als internationale Abkommen das vorsehen. So wurde 2014 in einem Fall unserer Kanzlei (Rechtssache B. gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 5709/09) einem Betroffenen in Hessen nach einem schwerwiegenden Eingriff in seine Meinungsfreiheit erst vor dem Europäischen Gerichtshof Recht zugesprochen. Dem Beschwerdeführer waren von sämtlichen deutschen Instanzen unter anderem Einschränkungen und Beweispflichten in einem politischen Fall auferlegt worden, die nach europäischem Maßstab bei Meinungsäußerungen im Rahmen einer öffentlichen Debatte nicht zulässig waren. Auch das Bundesjustizministerium vertrat hierzu eine unhaltbare Position des Einschnitts in die Meinungsfreiheit, die erst mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs kassiert wurde.
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK, Artikel 10 Abs. 1) garantiert die Freiheit der Meinungsäußerung als eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung eines jeden Einzelnen. Die Meinungsfreiheit ist nicht nur auf Informationen und Ideen anwendbar, die positiv aufgenommen oder als unschädlich oder belanglos angesehen werden, sondern auch auf solche, die beleidigen, schockieren oder beunruhigen (z.B. Oberschlick gegen Österreich). Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt nicht nur den Inhalt der geäußerten Ideen oder Informationen, sondern auch die Form, in der sie vermittelt werden. Ausnahmen sind eng auszulegen (u. a. Jerusalem gegen Österreich).
In seiner autoritativen Auslegung der Meinungsfreiheit aus Art. 19 des Zivilpaktes äußerte der zuständige Fachausschuss der Vereinten Nationen (VN) im Jahr 2011, Meinungsfreiheit dürfe nicht mit Berufung auf traditionelles religiöses und anderes Gewohnheitsrecht eingeschränkt werden. Das Verbot von Anzeichen mangelnden Respekts für eine Religion (wie bei Blasphemiegesetzen) sei nur unter gewissen Umständen kompatibel mit der Meinungsäußerungsfreiheit, zum Beispiel, falls es sich um ein Anstacheln von Hass und Gewalt handelt. Solche Gesetze dürften auf keinen Fall die eine Religion gegenüber der andern privilegieren oder herabsetzen und auch nicht die Kritik an religiösen Führern oder Dogmen zu verhindern suchen.
Vielmehr sind Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit im Sinne praktischer Konkordanz miteinander in Ausgleich zu bringen, wobei zu beachten ist, dass es kein Grund- und Menschenrecht darauf gibt, in seinen religiösen Gefühlen nicht verletzt zu werden. Hierauf weist die internationale Kampagne zur Abschaffung von Blasphemie-Gesetzen zutreffend hin.
Der § 166 Strafgesetzbuch steht im Konflikt zur Freiheit der Meinungsäußerung, verbürgt in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, Artikel 10) und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt, Artikel 19). Zudem hat die deutsche Rechtspraxis eine abschreckende Wirkung auf andere Personen.
Fazit
In dem Maße wie der Staat religiöse Dogmen bevorrechtet, verliert er den Charakter eines Rechtsstaats.
Daher ist es das Gebot der Stunde, unsere Rechtspolitik an den Anforderungen einer pluralen Gesellschaft auszurichten und sie so zukunftssicher zu machen. Wie Thomas Fischer, Richter am Bundesgerichthof, in der ZEIT Anfang März forderte: „Vielmehr sollte § 166 StGB ganz gestrichen werden. Ersatzlos.“ Das damit zusammenhängende Geflecht von Absicherungen und Stabilisatoren der religiösen Bevorrechtung stünde vor dem Aus. So die Ziffer 10 des Pressekodex des Deutschen Presserats und § 5 des Gesetzes zum Westdeutschen Rundfunk (WDR), um nur einige der Beispiele zu nennen.
Auch international wäre die Abschaffung des § 166 Strafgesetzbuch ein wichtiges Signal für die Stärkung internationaler Standards bei Grund- und Menschenrechten. Denn das deutsche Blasphemie-Religionsstrafrecht ähnelt fatal dem so mancher irdischer Gottesstaaten – bis auf das Strafmaß, hierzulande und heutzutage „nur“ Geld- und Haftstrafe, andernorts folgt auf Blasphemie Folter, Todesstrafe und gesellschaftliche Ächtung der Hinterbliebenen. Wie derzeit in den Medien zum Fall des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi zu verfolgen ist. Die deutsche Politik sollte sich konsequenterweise aus den antiken und mittelalterlichen Relikten des eigenen Religionsstrafrechts verabschieden und nicht nur das Strafmaß in anderen Ländern als „grausam, falsch, ungerecht und sowieso völlig unverhältnismäßig“ (Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier) kritisieren. Und so mit Vorbildfunktion weitere Länder ermutigen, sich in die internationale Menschenrechtsagenda einzubringen.
Dr. jur. Jacqueline Neumann, Rechtsanwältin