Man stelle sich vor, die Mafia würde einen Bericht veröffentlichen, in dem sie einräumt, in den letzten 70 Jahren eine Vielzahl von Verbrechen begangen zu haben, der Pate entschuldigt sich bei den Opfern, allerdings weigert die Mafia sich, unabhängigen Wissenschaftlern oder gar der Polizei Zugang zu ihren Archiven zu gestatten. Klingt ziemlich lächerlich und natürlich würde die Polizei sofort losmarschieren um das Mafiaarchiv zu beschlagnahmen. Auch wenn die katholische Kirche nicht die Mafia ist, ist das Verhalten genauso.
Bei dem hier zur Diskussion stehenden Kindesmissbrauch, von dem die Kirche mehr als 6.000 Fälle einräumt (wer es sich antun will, hier die vollständige Studie) sind sich eigentlich alle einig, dass dies nur die Spitze des Eisberges ist. Hier wird so getan, als ginge es bei dem Missbrauch um ein irgendwie geartetes ethisches Problem. In der Schlusserklärung der Bischöfe heißt es u.a.:
„Wir werden mehr als bisher die Begegnung mit den Betroffenen suchen. Für die Aufarbeitungsprozesse, die wir in den Bistümern angehen wollen, brauchen wir die Hilfe der Betroffenen sowie externer Fachleute“
Offenbar zählt die Kirche zu den „externen Fachleuten“ nicht die auf Kindesmissbrauch spezialisierten Dezernate von Polizei und Staatsanwaltschaft. Und natürlich bietet die Kirche auch nicht an, alle bisher unbekannten Täter den Ermittlungsbehörden namhaft zu machen.
Die Pflicht der Staatsanwaltschaft, Kindesmissbrauch zu verfolgen
Es geht hier um schwerste Straftaten, die – wie einzelne Tatbestände des § 176 StGB – mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren belegt sind. Und die Kirche hat ja nun nicht etwa nur Strafakten ausgewertet, sondern offenbar ihre eigenen Archive, aus denen sich im Zweifel auch eine Vielzahl von Taten ergab, die (bisher) gerade nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Ausdrücklich ist neben der Auswertung von Strafverfahren ab S. 104 der Studie auch von „Tätern“ die Rede, offenbar solche, die bisher nicht verfolgt wurden.
Was ein Staatsanwalt zu tun hat, wenn er – selbst aus der Zeitung – von einer Straftat erfährt, die – wie hier – ein Offizialdelikt ist, ergibt sich aus § 152 Abs. 2 StPO, in dem es heißt:
Die Staatsanwaltschaft ist „soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbarer Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkt vorliegen.“
Für ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft ist also nicht erforderlich, dass die Täter schon bekannt sind. Es reicht aus, wenn es „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ für Straftaten gibt. Wenn aber die Institution Kirche selbst einräumt, dass es Kindesmißbrauch auch in bisher den Verfolgungsbehörden noch nicht bekannten Fällen gegeben hat, dann müssen diese Fälle ermittelt werden.
Alles verjährt?
Allerdings müssen die Straftaten „verfolgbar“ sein und da mag der eine oder andere Staatsanwalt auf die Idee kommen, das läge ja alles schon so lange zurück und sei wegen der Verjährung nicht mehr verfolgbar. Ich rechne einmal zurück. Der z.B. im Raum stehende § 176 Abs. 2 StGB, der einen Missbrauch mit Vergewaltigung umfasst (was durchaus im Bericht eingeräumt wurde) hatte schon seit längerem eine einfache Verjährung von 20 Jahren. Damit aber nicht genug. Bis zum 30.06.2013 ruhte die Verjährung bis zum 18. Lebensjahr des Opfers, anschließend bis zum 21. Lebensjahr und ab dem 21.01.2015 bis zum 30. Lebensjahr des Opfers.
Dabei muss man wissen, dass die Verlängerung der Verjährungsfrist immer alle Fälle betrifft, bei denen die Verjährung zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes noch nicht abgelaufen war. Nehmen wir also jemanden, der im Alter von zehn Jahren im Jahre 1985 missbraucht wurde. Dann begann die Verjährung erst im Jahre 1993 und endete – soweit sie nicht zwischenzeitlich unterbrochen wurde – im Jahre 2013. Da hier zumindest ab dem 30.06. allerdings eine längere Zeit des Ruhens (nämlich weitere drei Jahre) und ab dem 21.01.2015 weitere neun Jahre Gesetz sind, kann man davon ausgehen, dass die harten Missbrauchsfälle für Zehnjährige seit 1985 noch verfolgbar sind. Waren die Opfer noch jünger, so geht die Verfolgbarkeit sogar noch weiter zurück. Ginge es um weniger schwerwiegende Delikte dürften diese immer noch mindestens ab 2000 verfolgbar sein.
Und wer denkt, es könnte dann ja jetzt mit der Verjährung knapp werden, sollte wissen, dass allein die Mitteilung der Einleitung des Strafverfahrens an mögliche Täter, bereits zu einer Unterbrechung der Verjährung führt und damit zu einer Verlängerung um weitere 20 Jahre oder bei leichteren Delikten z.B. um 10 Jahre.
Beschlagnahmen durchführen
Wenn nun klar ist, dass Hinweise auf derartige schwerste Straftaten sich in den Archivbeständen der einzelnen Diözesen befinden, so ist es eigentlich selbstverständlich, dass die Staatsanwaltschaft wegen eines bestehenden Anfangsverdachtes derartiger Taten Beschlagnahmebeschlüsse beantragt und anschließend die Archive selbst auswertet oder auswerten lässt. Und gegenüber der Staatsanwaltschaft gilt natürlich auch keinerlei Datenschutz. Die Staatsanwaltschaften müssen die Herausgabe der entsprechenden Unterlagen bei den Diözesen anfordern. Mögliche Verjährungen zwingen auch zu schnellem Handeln. Ob und in welchen Fällen vielleicht tatsächlich Verjährung eingetreten ist, wird man abschließend erst nach Auswertung der Archive feststellen können.
Wie weit staatsanwaltschaftliche Befugnisse in diesem Zusammenhang reichen können, hat z.B. das Amtsgericht Halle in einem Beschluss aus dem Jahre 2007 deutlich gemacht, in dem es für rechtmäßig gehalten hat, sämtliche Kreditkartenunternehmen in der Bundesrepublik anzuschreiben, um festzustellen, ob dort Transaktionen vorgenommen wurden, die Hinweise auf die Beteiligung an einem Kinderpornoring enthielten.
Auch die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weist in diese Richtung. Am 27. Juni 2018 entschied die 3. Kammer des Zweiten Senats, dass die Anordnung der Durchsuchung des Münchener Büros der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day und die Bestätigung der Sicherstellung der dort aufgefunden Unterlagen zum Zwecke der Durchsicht verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Anlässlich eines in den USA geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen hatte die Volkswagen AG die internationale Rechtsanwaltskanzlei Jones Day im September 2015 mit internen Ermittlungen, rechtlicher Beratung und der Vertretung gegenüber den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden beauftragt. Zum Zwecke der Sachaufklärung sichteten die Rechtsanwälte von Jones Day innerhalb des Volkswagen-Konzerns eine Vielzahl von Dokumenten und führten konzernweit Befragungen von Mitarbeitern durch. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete das Amtsgericht München die Durchsuchung der Münchener Geschäftsräume der Kanzlei Jones Day an. Bei der Durchsuchung am 15. März 2017 wurden zahlreiche Aktenordner sowie ein umfangreicher Bestand an elektronischen Daten mit den Ergebnissen der internen Ermittlungen sichergestellt.
Was im Rahmen der Durchführung von Ermittlungen wegen des Verdachts des Betruges und strafbarer Werbung erlaubt ist, muss erst recht bei Vorliegen des Verdachts des (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern erlaubt sein, die erheblich höher bestraft wird als die Verbreitung von Kinderpornografie; so gibt es keinen Grund für die Staatsanwaltschaft, hier nicht durchzugreifen. Verwunderlich im Übrigen auch, dass diejenigen aus den Parteien mit dem großen C, die sich sonst mit der Devise „Null Toleranz“ geradezu überschlagen, offenbar ausnehmend viel Toleranz mit den christlichen Kirchen haben. Wie sagte der NRW Innenminister Reul am 27.9.2018 im WDR so schön:
„Rechtsbruch ist Rechtsbruch. Und die Polizei kann nicht zulassen, dass an irgendeiner Stelle irgendeiner ob rechts ob links, ob Ausländer oder Inländer, ob Mann oder Frau Recht bricht.“
Und das gilt natürlich auch für die Katholische Kirche und deren Beschäftigte.
Eberhard Reinecke
s. dazu jetzt auch die Stellungsnahme von Prof. Dr. Dieter Rössner auf der Seite des Institutes für Weltanschauungsrechts :