Faktencheck gegen Opfermythos

 Felix Cassel (Landesvorsitzender der Jungen Alternativen NRW) startet mit Lügen eine Spendensammlung.

Beliebte Frage in den USA: Woran erkennt man, dass Trump lügt? Daran, dass er den Mund aufmacht. Zu der Frage, woran man erkennt, dass Felix Cassel lügt, werden sich die Lesenden am Ende dieses Artikels ihre Meinung bilden können.

Felix Cassel ist der Landesvorsitzende der Jungen Alternative NRW (s.das update unten) und wurde zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er eine Person, die von einem Protest gegen eine AfD Veranstaltung kam, an einer Ampel auf die Haube genommen hatte und dadurch verletzte. Wir hatten bereits auf unserer Webseite über das entsprechende Urteil des Landgerichtes  sowie auch darüber berichtet, dass die Verurteilung nunmehr rechtskräftig ist.

Schon in der letzten Veröffentlichung vermuteten wir, dass Felix Cassel seinen Status als „Opfer der Justiz“ ausnutzen wird. Tatsächlich hat er nun eine Spendenkampagne gestartet, um die Verfahrenskosten aufbringen zu können. Nach unseren vorsichtigen Schätzungen dürften diese sich etwa im Bereich von insgesamt 35.000 € bewegen (Gerichtskosten inklusive Gutachter, eigener Verteidiger und auch ca. 10.000 € für die Honorare des von uns vertretenen Nebenklägers). Unterstützt wird Cassel dabei von der Webseite einprozent.de. 10.000,00€ hat diese Organisation bereits gespendet. Cassel selbst hat eine eigene Spendenkampagne über die amerikanische Seite givesendgo.com gestartet. Da bewegt er sich natürlich unter vielen anderen Justizopfern, wurde auf der Seite auch schon für Personen gesammelt, die am Sturm auf das Capitol beteiligt waren. Die Seite arbeitet allerdings nicht ganz selbstlos. 0,30€ pro Spende und 3,5% des Spendenaufkommens bleiben bei einem Zahlungsdienstleister hängen.

Schon aus Eigeninteresse haben wir eigentlich nichts gegen eine solche Spendensammlung einzuwenden, kann doch jeder für die Prozesskosten und unser Honorar gespendete Euro weder zum Ankauf von Baseballschlägern noch zu Propagandazwecken für die AfD genutzt werden. Allerdings versucht Cassel die Spendenbereitschaft seiner Anhänger durch eine Erzählung von einer „politisierten Justiz“ zu erhöhen, die ihn nur deswegen verurteilt habe, weil der AfDler immer der Böse und der Linke immer der Gute sein müsse. Diese Veröffentlichung von Cassel wird hinsichtlich des Textes (T) und des Videos (V) im Folgenden einem Faktenscheck unterzogen. Cassel lässt kein Stereotyp aus, allerdings stimmt so gut wie nichts an seiner Erzählung:

Der große Schweiger

T:„Während des Prozesses habe ich geschwiegen, nun äußere ich mich zu den Anschuldigungen“

Welche große Enthüllung beginnt nicht mit der Ankündigung, dass jetzt jemand sein Schweigen bricht. Doch: In welchem Prozess habe ich eigentlich gesessen? Ich habe gehört, wie Cassel zweimal bei Amtsgericht eine ausführliche Darstellung gegeben hat, zweimal beim Landgericht und dann jeweils auch noch das letzte Wort in der Verhandlung hatte und dies auch nutzte. Das einzige, was Cassel nicht gesagt hatte, war die Behauptung von der politisierten Justiz.

 

„Vorverurteilung vom ersten Tag an“

T,V: Verurteilt wurde ich durch die Medien seit Tag Eins. Für sie war klar: Der Rechte muss der Böse, der Linke der Gute sein. Überall war von dem AfD-ler zu lesen, der in eine Gegendemonstration gefahren sei.

Natürlich dürfen in einer solchen Geschichte auch die Behauptungen über eine angebliche Vorverurteilung nicht fehlen. Ich will ja nicht behaupten, dass ich alle Zeitungsausschnitte zu dem Vorfall gesammelt habe, allerdings liegt mir ein solcher vom Kölner Stadtanzeiger vom 2. Tag nach der Straftat (09.04.2019) vor und zwar mit der Überschrift: „Polizei sucht Zeugen: Autofahrer fährt in Köln Kalk Fußgänger an und flüchtet“ Kein Wort von einem AfDler; erstmals am 07.05.2019 also einen Monat nach dem Vorfall stellt die Polizei fest, dass der zwischenzeitlich ermittelnde Fahrer gleichzeitig bei der AfD in Bonn aktiv ist.

Staatsanwaltschaft und Staatsschutz gegen Cassel

V: „Erfolglos wurde (von der Staatsanwaltschaft) dreimal eine Hausdurchsuchung bei mir beantragt“

Es gab einen Antrag, der zunächst vom (politisierten?) Amtsgericht zurückgewiesen wurde und auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft auch von dem (politisierten?) Landgericht.

V: Als das nicht verfing, hat man mir mit dem Staatsschutz meinen Führerschein ein Jahr und 9 Monate entzogen. Alles ohne Prozess.

Der Eindruck: Eine politisierte Behörde entzieht jemand den Führerschein. Richtig hingegen: Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erfolgte zeitgleich mit der Ablehnung der Durchsuchung durch einen richterlichen Beschluss des Amtsgerichtes, gegen den Cassel hätte Beschwerde einlegen können, was er nicht getan hat. Der spätere Antrag seines Verteidigers führte dann dazu, dass vorläufig der Führerschein zurückgegeben worden. Der Staatsschutz hatte damit nur insoweit etwas zu tun, als er anlässlich einer Vernehmung Herrn Cassel den Beschluss übergab und den Führerschein an sich nahm. Bei Unfallflucht mit Personenschaden wird übrigen – ohne jede Politisierung – regelmäßig eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet.

Erst Verzögerung dann „kurzer“ Prozess:

V: „Der Prozess lies dann auch auf sich warten. Nach über zwei Jahren kam nach einem viel zu kurzem Prozess ein noch kürzeres Urteil…. -Der Prozess an sich – eine Farce.“

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon jemals ein Urteil gelesen hatte, das länger war als der Prozess. Aber lassen wir dieses unsinnige Wortgeklingel einmal weg. Hier soll der Eindruck erweckt werden: Erst lässt man die Sache Jahre lang liegen, dann kurzer Prozess unter Verkürzung der Rechte des Angeklagten. Tatsache hingegen ist:

Tatzeitpunkt: 7.4.2019
Anklageerhebung 1.8.2019
Eröffnungsbeschluss 3.9.2019
Der ursprünglich angesetzte Termin 9.10.2019 wurde zweimal verschoben und fand am 20.11.2019 statt. Gerade weil es kein kurzer Prozess war, wurde ein Fortsetzungstermin am 4.12.2019 notwendig, der dann nicht mehr stattfinden konnte, weil der Verteidiger von Cassel kurzfristig ins Krankenhaus musste.
Der neue Termin wurde auf den 18.3.2020 anberaumt dann aber im Hinblick auf Corona aufgehoben.
Die erneute Terminierung erfolgte dann zum 4.11.2020. Dieser Termin wurde aufgehoben, weil der Verteidiger von Cassel kurz vor dem Termin ein Privatgutachten zur Geschwindigkeit des Fahrzeuges des Angeklagten vorlegte und die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragte, das das Gericht dann auch einholte, vor diesem Termin aber nicht einholen konnte.

Der Termin fand dann am 23.6.2021 statt, er begann um 9:04 und endete um 17:41 bei einer Mittagspause von ca. 35 Minuten. Acht Stunden für einen Prozess beim Amtsgericht ist eher lang. Alle Zeugen und der Sachverständige wurde vernommen, Cassel und sein Verteidiger konnten alle Fragen stellen, sie hätten auch weitere Anträge stellen können, was sie nicht getan haben. Was war daran eine Farce?

Notwehr?

V: „Das Gericht musste letztinstanzlich feststellen, dass ich mich in einer Notwehrlage befunden habe“.

Das ist natürlich ein ganz dickes Ding. Notwehrlage und dann kein Freispruch. Das trifft eben auch nicht zu. Im Urteil heißt es zunächst:

Die Freiheit des einzelnen Verkehrsteilnehmers, sich ohne verkehrsfremde Beeinträchtigung im Straßenverkehr fortzubewegen, stellt zwar ein notwehrfähiges Rechtsgut dar und diese Freiheit wurde – zugunsten des Angeklagten unterstellt, dass seine Ampel zu diesem Zeitpunkt noch Grün (und nicht Gelb) zeigte – (auch) durch den Nebenkläger beeinträchtigt. Der Nebenkläger war jedoch nicht auf die Fahrbahn getreten, um den Angeklagten an der Weiterfahrt zu hindern. Er wollte sich vielmehr über das Verhalten des Angeklagten beschweren, wobei ihm nicht bewusst war, dass der Zeuge L. seinerseits den Angeklagten zuvor an der Weiterfahrt gehindert hatte. Zwar setzt ein Angriff kein vorsätzliches Verhalten voraus, rasch vorübergehende Belästigungen oder Behinderungen können der Annahme eines Angriffs im Sinne des § 32 StGB jedoch entgegenstehen. Hier liegt es nahe, dass der Nebenkläger, nachdem er seinen Unmut kundgetan hatte, die Fahrbahn zügig wieder geräumt hätte.

Das Gericht hat also bereits Zweifel, ob überhaupt eine Notwehrlage vorlag, musste das allerdings auch nicht entscheiden da die Notwehrlage keineswegs jede Straftat rechtfertigt, wie im Urteil fernab jeder Politisierung ausgeführt wird:

Letztlich bedarf dies aber keiner Entscheidung, da – geht man von einem Angriff des Nebenklägers auf die Fortbewegungsfreiheit des Angeklagten aus – jedenfalls die vom Angeklagten gewählte Art der Verteidigung nicht erforderlich im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB war.
……
Das Zufahren auf den Nebenkläger war danach grundsätzlich ein geeignetes Mittel, um den Angriff auf die Freiheit des Angeklagten zu beenden. Der Angeklagte hat jedoch nicht das relativ mildeste Mittel gewählt. Der Angeklagte hätte ohne Weiteres die Möglichkeit gehabt, mit niedriger Schrittgeschwindigkeit und jederzeit bremsbereit auf den Nebenkläger zuzufahren, um diesen dazu zu bewegen, die Fahrbahn zu räumen.

Der Angeklagte handelte schließlich auch schuldhaft, insbesondere scheidet auch bei Annahme einer objektiv gegebenen Notwehrlage eine Entschuldigung nach § 33 StGB aus. Der Angeklagte hat die Grenzen der Notwehr nach den Feststellungen der Kammer – er sah sich schon keinen körperlichen Angriffen ausgesetzt – nicht aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschritten.

All das sollte Cassel eigentlich wissen, befand er sich doch zum Zeitpunkt des Urteils erster Instanz im 7. Semester eines Jurastudiums (Notwehr ist meist Stoff in den ersten Semestern), das er nach seiner Aussage im Verfahren im Februar 2024 bis dahin nicht abgeschlossen (vielleicht auch nicht fortgesetzt) hatte.

Das manipulierte Video

T,V: Dass sich das einzige Beweisvideo als manipuliert darstellte, interessierte das Gericht genau so wenig,
Webseite einprozent.de „Ein manipuliertes Video führte schließlich zur Anzeige“.

Das manipulierte Beweismittel darf natürlich bei der „politisierten Justiz“ nicht fehlen. Auch das ist allerdings Unsinn. So macht Cassel keinerlei Ausführungen dazu, was eigentlich an dem Video manipuliert sein soll und durch wen. Der Sachverständige hatte die Frage aufgeworfen, ob das Original Video schon früher eingesetzt habe, also länger war. Hinweise darauf, dass innerhalb des Videos Veränderungen vorgenommen wurden, sind von niemanden im Prozess behauptet worden, der Sachverständige hat dies sogar ausgeschlossen. Dass allerdings das Video nicht länger war, als der Polizei übergeben, hatte nachvollziehbar ein Zeuge dargestellt. So spielte auch im Prozess diese Frage überhaupt keine Rolle, weder von Cassel noch von seinem Anwalt wurde dies im Prozess behauptet noch irgendein Antrag wegen der angeblichen Manipulation des Videos gestellt, auch in der ausführlichen Revisionsbegründung seines Verteidigers findet sich kein Wort dazu.

Dass sich Cassel jetzt gegen das Video wendet, ist anhand der Urteilsgründe leicht nachvollziehbar, hat das Landgericht doch in einer sehr sorgfältigen Beweiswürdigung gerade aufgrund dieses Videos (einem deutlich besseren Beweismittel als Zeugenaussagen) Feststellungen dazu getroffen, dass die Zeugenaussagen gegen den Angeklagten mit dem Video in Übereinstimmung zu bringen sind, die Angaben des Angeklagten und seines Beifahrers hingegen nicht. Zwei Seiten aus den Urteilsgründen des Landgerichtes sind deshalb hier nachzulesen. Damit fällt natürlich auch das zentrale Narrativ des Angeklagten in sich zusammen, wenn er behauptet:

V: Man hatte uns aufgelauert, im Dunkeln auf uns gewartet. Nach dem Besuch einer AfD-Veranstaltung wurden wir verfolgt, beschimpft, bedrängt, umringt, bedroht. Ich hatte Angst. Angst vor der alkoholisierten Meute, die sich um mein Auto platziert hatte und darauf einschlug. Gefangen in dem Auto, war die einzige Möglichkeit, wegzufahren. Um mich an meiner Flucht vor den Angreifern zu hindern, warf sich einer von ihnen auf meine Motorhaube.

Diese Darstellung ist genauso unwahr, wie die ganzen anderen Behauptungen, mit denen wir uns hier auseinandergesetzt haben.

Was ist ein Richter, der der Politisierung stand hält

Natürlich ging es einem edlen Menschen wie Herrn Cassel eigentlich nie um sich selbst. Als er sich entschloss gegen das Urteil des Amtsgerichtes Berufung einzulegen und zu kämpfen, da machte er es nicht nur für sich, da wollte er – wie im Video behauptet – feststellen, wie politisiert die Gerichte sind. Tatsächlich hatte das Landgericht ihn tatsächlich in einem ersten Berufungsverfahren freigesprochen, für Cassel der Beleg, dass diese Richer der Politisierung standgehalten habe.

Dieses freisprechende Urteil war schon handwerklich schlecht, weshalb das Oberlandesgericht es auch aufgehoben hat. Was diesem Richter vorschwebte wird schon daran deutlich, dass in den Urteilsgründen der Nebenkläger mehrfach als „Angeklagter“ bezeichnet wird, dass das Gericht im Urteil von einem Zeugen Breuer spricht, den es nie gegeben hat (allerdings fand die Tat des Angeklagten in der Breuerstrasse statt). Zentral ist allerdings, dass das Landgericht in dem freisprechenden Urteil ohne jede Begründung allein die Schilderung des Angeklagten zugrunde gelegt hat, ohne auch nur im Ansatz zu begründen, warum die Angaben der Zeugen einschließlich des Nebenklägers nicht zutreffen. Das unterscheidet das damalige Urteil auch vom jetzigen, in dem sehr detailliert und penibel alle Zeugenaussagen und die Einlassung des Angeklagten geschildert werden und jeweils konkret begründet wird, warum das Gericht bestimmten Aussagen glaubt und anderen nicht. Was also versteht Cassel darunter, dass das Gericht einer Politisierung standhält? Dass ist offensichtlich nur dann der Fall, wenn das Gericht unbesehen einem Angehörigen der AfD glaubt und ohne nähere Begründung Zeugenaussagen von politisch links stehenden Menschen für unglaubwürdig hält. Das dürfte also auch auf uns zukommen, wenn sich der Angriff der AfD auf die „Politisierung“ der Gerichte tatsächlich durchsetzt.

Eberhard Reinecke

Update vom 20.10.2024: Ein freundlicher Leser hat darauf hingewiesen, dass Cassel zwar auf der Webseite der Jungen Alternativen noch als Landesvorsitzender aufgeführt ist, nach einem Facebook Post vom 6.10.2024 aber nicht mehr im Vostand ist. Etwas lieblos heißt es dort:

Gestern fand unser JA Landeskongress statt wo wir einen neuen Vorstand wählten. Leider mussten wir uns auch von unserem Vorsitzenden @f.a.cassel verabschieden, welcher nicht erneut antrat.
Wir wünschen dir alles gute und danken dir für deine Führungskraft in den letzten drei Jahren.

Ist er wirklich freiwillig nicht mehr angetreten oder wurde er nicht mehr angetreten. Und wenn, weshalb? Sollte es wirklich so sein, dass eine Vorstrafe in den Reihen der AfD nicht mehr Auszeichnung sondern Hinderungsgrund für die Karriere ist?